Drei sind besser als vier

Uraufführungen von Martin Schläpfer und Dominique Dumais zwischen Choreografien von Balanchine und van Manen in Amsterdam

Amsterdam, 18/03/2009

„4 temperamenten“ hat das Niederländische Nationalballett ein Programm überschrieben, das die enge Beziehung zwischen Musik und Tanz sinnfällig machen soll (und musikalisch im Wesentlichen von Otto Tausk und der Holland Symfonia gestaltet wird). Der Titel hat eine Doppelbedeutung. Zum einen benennt er die berühmteste (und älteste) der Choreografien, die bis zum 5. April an zehn Abenden im Amsterdamer Muziektheater zu sehen sein werden: George Balanchines „Die vier Temperamente“ aus dem Jahr 1946. Zum anderen aber verweist er darauf, dass die diffizile Beziehung zwischen Musik und Tanz in diesem Programm von vier unterschiedlichen künstlerischen Temperamenten gestaltet wird. Ursprünglich sollte der Balanchine, ein in klassischem Schwarzweiß gehaltenes, bei aller Kühle von choreographischem Witz strotzendes Meisterwerk des Neoklassizismus für elf Solisten und ein Corps von 14 Tänzerinnen, von drei Uraufführungen begleitet werden. Aber nachdem es ihm in fünfzig Choreografenjahren 130 Mal gelungen war, eine Musik in luziden tänzerischen Bewegung sichtbar zu machen, gelang es dem holländischen Altmeister Hans van Manen diesmal nicht, eine Musik, die sich ihm zur choreografischen Umsetzung angeboten hätte, auch nur zu finden. So griffen er und das Nationalballett denn auf ein Stück zurück, das van Manen im Januar 1994 für das Nederlands Dans Theater geschaffen hatte und von diesem gerade nur ein dutzend Mal aufgeführt worden war: „Concertante“ zu Frank Martins „kleiner konzertanter Sinfonie“ von 1945. Auf nachtschwarzer Bühne (von Keso Dekker) bewegen sich vier Tänzerinnen und vier Tänzer, Michele Jiminez und Jozef Varga, Igone de Jongh und Alexander Zhembrovskyy solistisch herausgehoben, gut zwanzig Minuten lang im vollkommenen Einklang mit der Musik. Van Manen hat ihnen nicht einmal besonders virtuose Bewegungen aufgetragen. Er lässt sie, in unterschiedlichen Gruppierungen und immer neuen Bildern, allenfalls ein wenig wirbeln, meistens aber einfach nur schwingen und gleiten. Gelegentlich fügt er zwei seiner Tänzer, durchaus auch zwei Männer, zu Paartänzen voller Harmonie zusammen, die nicht einmal ansatzweise die im Tanz so beliebten Liebesgeschichten erzählen. Erreicht wird derart einer jener seltenen Glücksfälle, in denen der Tanz ganz bei sich selbst ist und eine Seligkeit ganz eigener Art erreicht: ein Stück, das gleichsam außerhalb der irdischen Zeit existiert – heute noch so frisch und neu wie vor 15 Jahren zu seiner Entstehungszeit.

Wenn eine solche Aussage dem derart Gefeierten nicht mindestens den Beigeschmack des Stilkopisten verleihen würde, wäre ich fast geneigt zu sagen, dass wir den neuen van Manen, den uns das Original schuldig blieb, an diesem Abend doch zu sehen bekommen haben. Nicht nur, weil Hans van Manens ständiger Bühnenbildner Keso Dekker Martin Schläpfers Ligeti-Choreografie „lontano“ in einen dunklen Rahmen, beinahe ein Baugerüst, stellt, wie er auch einem van Manen-Ballett gut zu Gesicht stünde, hat Schläpfers 12-Minuten-Stück einige Ähnlichkeit mit dem Spätwerk seines großen Vorbilds: dieselbe Musikalität, welche die sechs Tänzer mit den dunklen Klängen der Musik umhüllt wie mit einem schützenden Kokon, ein ganz ähnlicher Verzicht auf jeglichen Schnickschnack zugunsten simpler, starker Motionen, eine vergleichbare Art, die Tänzer auf die Szene zu holen und von ihr abzuziehen. Doch nichts davon ist nachempfunden; wir sehen eine enge Verwandtschaft, nichts Epigonenhaftes. Schläpfers Choreografie beginnt mit zwei perfekt synchronen Trios, jeweils eine Frau (Ainara Garcia Navarro, Seh Yun Kim) zwischen zwei Männern (Jan Zerer/Alexander Zhembrovskyy; Mathieu Gremillet/Juanjo Arques), die ihr Halt und ihren Posen Form geben, die sie aber auch einengen und bedrängen. Das geht so geraume Zeit, und wenn man schon glaubt, das könne für den Rest des kurzen Stücks so weiter gehen, würfelt Schläpfer seine Tänzer zu neuen , isolierteren Gruppierungen durcheinander, ehe er sie im Finale erneut zusammen bringt und einer ziemlich komplizierten Aktion nach rechts in die Kulissen schickt.

Das hätte eine grandioser Abend werden können: nicht nur eine Art Geschichtsstunde des Neoklassizismus, eine tanzhistorische Treppe in die Gegenwart, sondern darüber hinaus ein Fressen für Tanzfans und choreografische Genießer. Doch leider enthält das Programm „4 temperamenten“ ein weiteres Stück, das den positiven Eindruck nachhaltig schädigt. „woolf“, eine angeblich von der Schriftstellerin Virginia Woolf inspirierte 24-Minuten-Choreografie der Kanadierin Dominique Dumais, ist – von der mit reichlich Woolf-Zitaten und viel Sampler-Kitsch arbeitenden, eigens für das Stück geschriebenen Musik von Jacob ter Veldhuis über die Ausstattung von Tatyana van Walsum bis zur Bewegungserfindung der Vize-Direktorin des Mannheimer Balletts – ein eitles Stück künstlerischer Hochstapelei, choreografischer Kitsch, dessen empfundene Dauer zu allem Übel auch noch weit länger ist als die 24 Minuten, die das Programmheft angibt. Im Grunde hat Ted Brandsen, der Chef des Nationalballetts, wenn er den Abend retten will, nur eine Chance: er muss „woolf“ samt seiner offensichtlich teuren Ausstattung, den pludrigen Kostümen, dem riesigen Mobile über der Szene und der silberglänzenden, geschlitzten Rückwand in eine große Abfalltonne stopfen und dort dauerhaft entsorgen.

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