Das physical virus collective (pvc) in Heidelberg zum Tanzfestival 5

pvc hilft dem Theater auf die Sprünge

Heidelberg, 10/11/2009

Freiburg und Heidelberg teilen sich die Tanzsparte und betreten Neuland. Bei den eigenwilligen Projekten von pvc lässt sich ohne Übertreibung von Pionierarbeit sprechen. Die Truppe bricht nicht nur mit den traditionellen Vorstellungen eines Tanzensembles, sondern auch mit Tanz als isolierter Theatersparte. Es geht den Künstlern um ein Ineinandergreifen der verschiedenen Sparten. Dabei soll der Tanz nicht in den Hintergrund treten. Im Gegenteil: Er soll sich an anderen Theater- oder Performance-Strukturen bereichern und davon profitieren und ein neues Konzept von Aufführungspraxis ermöglichen: Dazu zählen neue Plattformen und die Erweiterung des PVC-Netzwerks durch freie Tanzgruppen. Auf dem Festival 5 gibt eine Heidelberger Gruppe mit „Warten.de“ Einsichten über einen Zustand, der nicht nur als negativ bewertet werden kann. Dem Warten lassen sich eine ganze Menge anderer Reize und Perspektiven abgewinnen.

Wie kann man Fiktionalität in die eigenen vier Wände bringen, seine Wohnraum für einige Zeit entfremden? Hit&Run ist ein erfolgreiches PVC-Format, das die Bewohner Heidelbergs um eine ungewöhnliche Bühne bittet – Bürger stellen ihren Wohnraum zur Verfügung – und den privaten Lebensraum für den Tanz öffnet. Unter dem Begriff Massenbewegung bringt pvc bestimmte Gruppen der Stadt zum Tanzen. Für das Publikum gibt es auf dem Festival die einmalige Gelegenheit, die in Heidelberg stationierte US-Army tanzend in Bewegung zu sehen.

Unter dem Format Tanz-Kontext etwa versteht pvc ein Publikumsgespräch der besonderen Art. Hier geht es nicht um die klassische Einführung zu einem Stück, sondern um eine Diskussionsrunde. Das pvc-Team sucht sich einen Spezialisten wie Rainer Holm-Hadulla, Professor und Fellow am Center for Advanced Studies der Universität Köln sowie Autor des Werks „Kreativität – Konzept und Lebensstil. Zusammen mit dem Publikum beleuchtete er einen Aspekt aus dem Stück „Hochstapler und Falschspieler“. Drei neue Produktionen: Neun Figuren, alle im selben Outfit mit ockerfarbenem Anzug, blauem Hemd und gleicher Frisur. Neun Doppelgänger mit Gitarre, schräge Akkorde zupfend oder mit schwarzen Aktenkoffern die Bühnenstufen herauf oder herunter stolpernd. Auch neun Spiegel für ein Publikum, das sich wieder erkennen könnte oder doch zumindest die gesellschaftliche Verfasstheit oder sich eventuell nicht angesprochen fühlt und gar mit Schrecken abwendet. „Hochstapler und Falschspieler“ sagt als Titel des Tanz- und Schauspielprojekts von Regisseur Christoph Frick schon viel. Es geht um eine falsche Welt, in der die Akteure zu hoch pokern, zu viel versprechen, Unsummen verdienen und sich doch nicht daran festhalten können. Grandios gelingt die deutsch-schweizerische Koproduktion von pvc Tanz Freiburg Heidelberg mit der freien Theatergruppe KLARA aus Basel. Intensiv prägen sich die einzelnen Szenen des Ensembles ein, das erst die „Ästhetik der Selbstaufblähung“ – so der Untertitel zum Werk – und schließlich das ganze Ausmaß ihres Scheiterns vorführt. Sätze wie „Wir alle haben eine Villa am See“ oder „Ich war der Beste“ oder „Wir spielen alle keine Rolle“ entfallen den neun Alter egos nach und nach oder im Chor. Im Verlauf des Stücks blähen sie sich immer stärker auf an ihren hochgestapelten Sätzen, die unweigerlich in eine Krise führen müssen. An den Körpern – und das ist der große Vorteil beim Tanz – wird das Dilemma deutlich. Sie stolpern und fallen, folgen nicht der Ordnung einer Satzstruktur, verlieren die Contenance und geraten außer Kontrolle. Dabei kommentiert oder persifliert die Musik von Martin Schütz als entscheidende Komponente das Spektakel. Der Künstler operiert mit Sitar und Laptop sowie sein Mitspieler Tobias Schramm am Schlagzeug den Klang einer untergehenden Gemeinschaft. Wir spielen am Ende doch ein Rolle und sei es nur eine kleine.

Tanzstimmung im Club, drei Frauen kristallisieren sich aus der Menge, fahren später im Auto durch idyllische Landschaften, ein Streit, Lachen. Das zeigt eine Videoprojektion. Vorhang auf, die drei Frauen im alten roten Fiat auf der Bühne, die Landschaft hinter ihnen auf die Wand projiziert. Im Gespräch über das Leben, über Typen und übers Fremdgehen, knallt es. Totalschaden? Alle drei geschockt. Zwei fallen aus den scheibenlosen Öffnungen des Wagens und liegen am Boden. Eine steigt aus, bewegt sich wie auf einem Grund glühender Kohlen. Nach und nach finden auch die beiden anderen zurück ins Leben, auf wackeligen Beinen und immer im Sturz. Dann ist da plötzlich noch jemand: Ein Mann schält sich vom Rücksitz des Fiats auf die Bühne und brabbelt irgendetwas vor sich hin.

„Happiness“ von Tom Schneider ist ein Stück über das Wünschen und Wollen, über Erfüllung und Begehren und darüber, was Katharina Schmidt als tanzende Schauspielerin mehrmals äußert: „Ich will nicht, dass mir jemand sagt, was mich glücklich macht.“ Die Figur will mehr, sie will überrascht werden und selbst entscheiden, was Glück sein kann, was es nicht mehr ist oder niemals war. Während die Schauspielerin Textbausteine von Samuel Beckett, Sybille Berg oder Michel Houellebecq in den Raum stellt, verunglückt die Tänzerin Alice Gartenschläger im harten Aufprall gegen den Bühnenboden oder das Autowrack. Angelika Thiele tanzt in ihren zarten, reduzierten Bewegungssequenzen mehr Sehnsucht als Erfüllung. Und in den Stereotypen – Cowboy, Popidol oder Geliebter – gibt Gary Joplin die Projektionsfläche für all das Wünschen und Wollen. „Happiness“ ist eine aufregende und an Überraschungen starke Tour de force menschlicher Sinnsuche.

„Bruder Bruder“ eröffnet einen Bibelzyklus, den das pvc-Kollektiv in kommenden Tanzfestivals fortführen wird. Das mit allen Gesellschaftsbereichen verwobene Thema Bruderschaft wird von den beiden amerikanischen Tänzern Clint Lutes und Tommy Noonan an kleinen familiären und an übergreifend allgemeinen Lebenskonflikten aufgezogen. Mit einem ausgiebigen Lachanfall, frontal ans Publikum, beginnen die beiden Tänzer ihr Stück. Das Lachen überträgt sich auf die Zuschauer und das Paar geht über zur nächsten Szene. Lutes hat sich auf ein schwarzes Handtuch gesetzt und beobachtet seinen Partner beim Ordnen von Gegenständen auf einem Teewagen. Ungeschickt hantiert dieser mit zwei Gläsern und einem Tablett, das Handtuch zwischen den Beinen bis der Slapstick vollbracht ist. Dann weiter mit Jogging: Nebeneinander, in leichtem Gleichschritt am Platz, mal jault es aus dem einen, mal kläfft es aus dem anderen. Ein absurdes Theater, aber auch eine stereotype Handlung zwischen zwei Männern, die ihre Kräfte und ihre Gemeinschaft im Laufen bündeln. Jetzt bricht der eine aus, läuft vorwärts, der andere bleibt zurück und muss wieder aufholen. Konkurrenz ist im Spiel, Kräftemessen. Wer gewinnt Oberhand, wer unterliegt? Beim Tanz gegen die Bühnenwände wird dieser Frage eindrucksvoll auf den Grund gegangen. Gegenseitig stemmen sich die beiden von einander ab, um oben zu sein, der Körper ist das schwankende Gestell für den anderen. Erst als Noonan sich trotz des geschulterten Partners langsam vom Kopf her nach unten einrollt und Lutes auf seinem Gesäß zu sitzen kommt, ist das Machtverhältnis klar. Im Bruder, im brüderlichen Bund sind sämtliche Ebenen der Zweisamkeit enthalten: Vom Freund zum Feind, von der brüderlichen Liebe zum gegnerischen Hass oder von gegenseitigem Vertrauen zu spaltender Missgunst. Wenn sich gegen Ende die beiden Künstler zur Wand drehen – ihre Schatten in Formen von Urmenschen oder Aliens – dringt aus dem einen unbändiges Gebrüll und aus dem anderen ein heller sirenenartiger Laut. Für ihren ersten Teil zum Bibelzyklus „Bruder Bruder“ haben Lutes und Noonan großartige Bilder gefunden und eindringliche Sounds produziert. Auf den zweiten Teil darf man mehr als gespannt sein.

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