Das Ende der Tanzmoderne

Zum Tod des großen amerikanischen Choreografen Merce Cunningham

Düsseldorf, 28/07/2009

In jüngeren Jahren muss Merce Cunningham ein wunderbarer Tänzer gewesen sein. In jeder Tänzergruppe, erinnert sich der amerikanische Tanzhistoriker Joseph H. Mazo in seinem Buch „Prime Movers“, sei er dem Betrachter sofort aufgefallen: „Wenn er still steht, scheint er aus der Bühne herauszuwachsen wie ein Baum. Wenn er sich bewegt, wechselt er die Richtung so schnell, wie eine Katze kämpft. Sein Körper schnellt in Sekunden aus der Ruhe in die Bewegung; er beschleunigt so sanft wie ein teures Automobil“. Doch das Schicksal hat es mit dem Tänzer Cunningham nicht gut gemeint. Schon in einem Alter, in dem gewöhnliche Menschen keine körperlichen Behinderungen verspüren, befiel ihn eine Arthritis, die ihm das Tanzen zunehmend erschwerte. In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts musste er, weit über die üblichen Beschwerden des Alters hinaus behindert, sogar seine geliebten Kurzauftritte einstellen, mit denen er bei seinen Stücken und seinen Tänzern herein schaute wie ein gütiger Großvater, der sich die Begrüßung seiner Familie auch durch seine Altersmalaisen nicht verleiden lässt, und zur Feier seinen 90. Geburtstags am 16. April dieses Jahres schob man ihn im Rollstuhl auf die Bühne: ein weiterer Beleg für die böse Erfahrung, dass es gerade die Größten sind, denen der Neid der Götter die härtesten Erschwernisse in den Weg legt.

Doch alle körperlichen Beschwerden haben weder Cunninghams positiver Lebenseinstellung noch seiner schöpferischen Phantasie etwas anhaben können. Als es ihm unmöglich wurde, seinen Tänzern im Studio vorzumachen, wie er sich eine Bewegung vorstellte, erfand er eine bis dahin unbekannte Möglichkeit zu choreografieren: er ließ sich ein Computerprogramm erstellen, dank dessen er zeigen konnte, was ihm vorschwebte. So blieben seine Choreografien jung wie ehedem; gerade auch seine jüngeren Arbeiten strahlen, neben ihrer altersweisen Gelassenheit und Reife, einen künstlerische Kraft und Jugendfrische aus, die das tatsächliche Alter ihres Schöpfers zu dementieren scheinen. „Ich bin nicht Tänzer geworden“, hat Cunningham in einem Interview mit der Französin Jacqueline Lesschaeve gesagt, „ich habe immer getanzt. Ich hatte immer Lust zu tanzen“.

Geboren in der Kleinstadt Centralia im amerikanischen Bundesstaat Washington an der Westküste, wuchs der Knabe Merce auf in einer Juristenfamilie, die mit dem Tanzen nichts am Hut hatte, der Neigung des Jungen aber auch keine Steine in den Weg legte. So besuchte Mercier Philip Cunningham schon mit acht Jahren die lokale Ballettschule, wo er das Step- und das Gesellschaftstanzen lernte. Mit 13 stand er, mittlerweile an einer neuen Schule, mit der er einige Jahre lang durch regionale Clubs und Kinos tingelte, zum ersten Mal auf einer Bühne: ein neuer Kick im Leben des Heranwachsenden. Entscheidend voran brachte den 18-Jährigen der Besuch der Cornish School of Fine and Applied Arts in Seattle, wo er auch seinem späteren Lebensgefährten, dem Musiker John Cage, begegnete; „später habe ich erst erkannt“, sagt er im Interview, „was für ein Glück ich hatte“.

Als er 1939 an den Sommerkursen am Bennington College teilnahm, wo die gesamte Tanzprominenz jener Jahre lehrte, fiel Cunningham Martha Graham auf, die ihn einlud, zu ihr nach New York zu kommen (und sehr verwundert war, als er tatsächlich in New York auftauchte). Als zweiter Mann überhaupt trat der 20-Jährige in die Martha Graham Dance Company ein. Bis 1945 angehörte er Grahams Ensemble an, für das er wichtige Rollen kreierte: den Akrobaten in „Every Soul Is a Circus“, beispielsweise, die Christus-Figur in „El Penitente“ den Prediger in „Appalachian Spring“. Schon während er für Martha Graham tanzte, begann Cunningham zu choreografieren. Es waren zunächst Duette mit Jean Erdman oder – mit Titeln wie „Renaissance Testimonial“, „Totem Ancestor“ oder „In the Name of the Holocaust“ – kurze Soli für sich selbst, zum Teil bereits mit Musik von John Cage und von Cage am Flügel begleitet. Mit Cage verband Cunningham eine lebenslange Freund- und Partnerschaft, und nach der Gründung der Merce Cunningham Dance Company in den fünfziger Jahren wurde Cage bis an sein Lebensende Cunninghams musikalischer Direktor.

Von Beginn an suchten Komponist und Choreograf den Kontakt mit den Nachbarkünsten. Ihre persönlichen Bekanntschaften wurden zur Basis jener künstlerischen Kollaborationen, die vor allem in den sechziger und siebziger Jahren Cunninghams Arbeiten mitbestimmten, als die Pop-Art-Künstler Robert Rauschenberg, Andy Warhol, Frank Stella, Jasper Johns und Robert Morris die Bühnenräume für Cunningham schufen. Seit dem Beginn seiner Choreografenkarriere hat Cunningham mehr Dinge in Bewegung gesetzt und mehr ästhetische Trends ausgelöst als irgendein anderer in der Welt des Tanzes. Er hat den Tanz mit dem Happening vermählt („Theater Piece“; 1960), mit der Aleatorik („Suite by Chance“; 1955; „How to Pass, Kick, Fall and Run“, 1965) und mit der Pop-Art („Rainforest“, 1968), das Mixed-Media und das Non-Ballet erfunden, den Tanz in die Erstarrung der Minimal Art getrieben („Second Hand“, 1970) und wieder hinausgeführt, mit variablen Einheiten gearbeitet, die für jeden Spielort und jeden Anlass neu zusammengestellt werden konnten („Events“; seit 1970) und den Modern Dance zu einer neuen Klassik erhoben („Un jour ou deux“, 1975 für die Pariser Oper).

Die Möglichkeiten des Videos hat Cunningham schon früh erkannt und intensiv genutzt (ganz wunderbar in „Biped“, 1999). Die Arbeit mit dem Computer (mit einem speziellen Software-Programm, „Live Forms“) hat er in die Choreografie eingeführt. Es sei ein Kreuz mit diesem Cunningham, hat sein jüngerer Kollege Hans van Manen in den siebziger Jahren gestöhnt: „Wohin man auch kommt – überall ist er schon vor einem dagewesen“. Jahrzehntelang - bis ihn die Deutsche Pina Bausch ablöste - galt er als der weltweit einflussreichste Choreograf des neuen Tanzes, in seinem Fach so uneingeschränkt herrschend wie nur wenige Künstler der Gegenwart, ein ästhetischer Wegweiser so sehr, dass ihn der Kollege Alvin Ailey zur Wasserscheide zwischen Moderne und Postmoderne ernannte und sich beinahe alle jüngeren Kräfte des amerikanischen Tanzes durch ihr Verhältnis zu Cunningham als „Übervater“ definierten: entweder wollten sie ähnlich arbeiten wie der Meister oder sich signifikant von ihm unterscheiden.

Seinen Zuschauern hat es Cunningham zeitlebens schwer gemacht. „Der historische Modern-Dance-Fan“, befand der Tanzhistoriker Don McDonagh, „wurde in milde Panik versetzt, als er herausfand, dass die üblichen Verständigungshilfen einer Fabel, der charakterlichen Entwicklung und musikalischer Stichwörter in Cunninghams Werk fehlten“. Auf diese Panik, die selbst Kritiker befiel, hat der Choreograf immer sehr selbstbewusst reagiert. Notfalls müsse man seine Stücke so oft anschauen, bis man sie verstanden habe, schrieb er seinen Kritikern bei einer hitzigen Pressekonferenz in Paris ins Stammbuch, wohl wissend, dass das ein langwieriger, schwieriger Prozess werden könne. Schon 1965 kam die Essayistin Susan Sonntag zu dem Schluss: „Der Tanz Merce Cunninghams macht eine Schulung der Aufnahmefähigkeit nötig, die, was Schwierigkeit und Langwierigkeit betrifft, mindestens vergleichbar ist mit den Schwierigkeiten, die einer Beherrschung der Physik oder des Ingenieurwesens im Wege stehen“.

Der Vergleich mag hinken; völlig falsch ist der nicht. Auch Cunningham selbst hat zur Erklärung seiner Ästhetik die moderne Physik benutzt. „Als ich zufällig Albert Einsteins Satz las: ‚Es gibt keine festen Punkte im Raum’“, sei ihm klar geworden, hat er Lesschaeve erzählt, dass sich aus diesem Axiom auch für den Tanz auf der Bühne Konsequenzen ergäben: „Wenn es keine festen Punkte gibt, dann ist jeder Punkt gleich interessant und gleich beweglich“. So begann er, seine „ Arbeit in diese Richtung zu treiben, denn sie eröffnet ein enormes Feld an neuen Möglichkeiten. Wenn man die einzelnen Sequenzen nicht aufeinander ausrichtet, kann man alles permanent verschieben, und so ergeben sich zahllose Transformationen“.

In Cunninghams frühen Choreografien sind denn auch die weitgehend symmetrischen Formationen des klassischen Balletts abgeschafft. Seine Tänzer bewegen sich überwiegend weder synchron noch parallel, sondern absolut individualistisch. Erst die Arbeit Cunninghams mit dem Choreografie-Computer seit den neunziger Jahren hat dieses Weltbild in der Praxis, paradoxer Weise, zu einer klassischeren Perspektive zurückverändert, ohne dass doch die prinzipielle Gültigkeit der Theorie dadurch infrage gestellt worden wäre. Zu dem, was das Publikum nachhaltig irritierte, zählte von Anfang an ein verändertes Verhältnis zur Musik, die von Cunningham weder „interpretiert“ noch optisch umgesetzt wird – ganz abgesehen davon, dass diese grundsätzlich „live“ gespielte Musik, von Cage und Cage-Verwandten, selbst nach Jahren noch als ein Element der Verstörung empfunden wurde. (Besonders deutlich wurde das, wo immer es gespielt wurde, bei dem abendfüllenden „Canfield“ (1969). Die vor allem mit technischen Geräuschen arbeitende Musik von Pauline Oliveros bringt das Publikum offenbar auf die Idee, ähnliche Geräusche könne es auch selbst produzieren. Folglich reagierte das Publikum, wo auch immer „Canfield“ aufgeführt wurde, mit Zwischenrufen, Pfiffen und Stöhnlauten, als die Musik nach einer halben Stunde plötzlich aufhörte, die Bewegung hinter einem die Bühne entlang fahrenden Lichtbalken - Bühnenbild: Robert Morris - aber ungerührt weiterging. Eine beschämte Stille im Parkett setzte immer dann ein, wenn Cunningham nach einer weiteren halben Stunde die auf Band aufgenommenen Publikumsreaktionen einspielte und als Tonkulisse für die letzte halbe Stunde des Stücks benutzte: ein verblüffender, genialer und erhellender Theatercoup.)

Die in der Ballettgeschichte üblich gewordene Verschmelzung von Musik, Choreografie und Bühnenbild findet in Cunninghams Stücken generell nicht mehr statt. Choreografie, Ton und Bild existieren als völlig getrennte, sich allenfalls zufällig berührende Schichten; sie entstehen auch unabhängig voneinander und werden erst zu einem relativ späten Zeitpunkt als fertige Produkte zusammengeführt. Als Stilvorbild haben Pina Bausch und ihre Tanztheater-Ästhetik Cunningham in den letzten Jahren abgelöst, und das hat nicht nur damit zu tun, dass nach Jahrzehnten, in denen Cunningham die Welt des zeitgenössischen Tanzes ähnlich absolut beherrscht hatte wie George Balanchine die Welt des klassischen Balletts, einfach etwas Neues her musste. Tatsächlich hatten die Cunningham-Epigonen in aller Welt das Vorbild des Meisters zwar begeistert, aber immer nur sehr oberflächlich und äußerlich nachgeahmt.

Der Grund dafür ist simpel: Eine choreografische Welt ohne Fixpunkte, wie sie der letzte Riese unter Amerikas Choreografen in einem Stück wie „Torse“ (1976), das den Bühnenraum in acht mal acht, also 64 Felder aufteilt und die Bewegungen seiner Tänzer nach dem Prinzip des chinesischen „I Ging“ ausrichtet, ist für 99 Prozent aller Choreografen viel zu kompliziert; mit dieser mathematischen Methode tanzbare, sinnlich erfahrbare Choreografien zu schaffen, bleibt wohl einem Genie wie Cunningham vorbehalten. In den Wochen nach seinem 90. Geburtstag im April dieses Jahres hat Cunningham, wohl wissend, dass die Zeit ihm davon lief, seinen Nachlass geordnet und genaue Anweisungen gegeben, was mit seinen Stücken, aber auch mit seinem Ensemble, das noch zwei Jahre zusammen bleiben wird, geschehen soll. In der Nacht von Sonntag auf Montag ist er, in New York, aus friedlichem Schlummer nicht wieder aufgewacht. Mit ihm ist die Tanzmoderne zu Ende gegangen. Aber kein anderer der großen Pioniere hat auf ein so erfülltes Leben zurückblicken können wie Merce Cunningham, den jeder liebte, der ihn kannte.

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