„Figuring Age“ von Boglárka Börcsök

Das darüber Nachdenken

Jess Curtis und Claire Cunningham mit „The way you look (at me) tonight“ und Boglárka Börcsök mit „Figuring Age“

Das Hellerauer Festival Come Together zeigt, was heute unter dem Begriff der Performance verstanden wird.

Dresden, 18/09/2022

Die Premiere von „The way you look (at me) tonight“ liegt zwar schon ein paar Jahre zurück, aber die Arbeit der schottischen Künstlerin Claire Cunningham und des US-amerikanischen Choreografen Jess Curtis hat in ihren Eigenheiten bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Beide kennen sich schon viele Jahre, und tatsächlich war es Jess Curtis, der Claire Cunningham überhaupt dazu gebracht hat, ihre körperliche Eingeschränktheit und ihr angewiesen Sein auf den Einsatz von Krücken beim Gehen als künstlerisches Potenzial zu nutzen. Seitdem hat sie eine beeindruckende künstlerische Karriere entwickeln können; im vergangenen Jahr erhielt sie im Rahmen des Deutschen Tanzpreises eine Ehrung für herausragende künstlerische Entwicklung.

Was sie im Festspielhaus Hellerau gemeinsam mit Jess Curtis gezeigt hat, thematisiert auf vielfältige Weise das Konzept Tanz, rückt die tatsächliche Darstellung dessen aber ganz weit an den Rand. Damit werden heutige Diskurse deutlich. Eine relaxed performance ist es, bei der vereinzelte Stühle für das Publikum lose über eine „Spielfläche“ verteilt sind. Performance selbst ist aber auch nur ein Teil der Arbeit. Gleich zu Beginn wird dem Publikum erklärt, was es zu erwarten gibt. Da rückt der Begriff der lecture performance ins Blickfeld. Und so ist dem auch: Beide Performer*innen reflektieren viel, über Wahrnehmung ganz allgemein, wie sie schon im Titel anklingt. Sie laden das Publikum dazu ein, die Peripherie des eigenen Sichtfeldes zu erkunden. Ein bisschen gamification, ein harmloses Spiel, das das Publikum aktiv einbindet und so zu einer gewissen Unmittelbarkeit beiträgt. Das ist leichtherzig, streckenweise amüsant. Gleichzeitig darf man sich fragen, ob es da nicht auch belanglose Momente gibt, vor allem dann, wenn sich beide miteinander im Dialog austauschen, ohne das Publikum direkt zu adressieren.

Da heißt es, Sokrates sei eine Nervensäge für sein Umfeld gewesen, weil er permanent Kommunikation boykottiert habe. Und das ist auch hier der Punkt: Alles bewegt sich permanent auf der Metaebene, ein unentwegtes Reflektieren über das nicht Stattfinden von Tanz. Und zwischendurch schmalzt Fred Astaire mit „Dancing Cheek to Cheek“ durch den Raum, begleitet von einer Videoprojektion, die die entsprechende Filmszene nur noch vermuten lässt. Tanzen? Das war mal.

Claire Cunningham und Jess Curtis rollen übereinander über den Boden, zwei rollende Hügel, wie es aus dem Off heißt. Von dort kommen auch weitere sprachliche Erläuterungen dessen, was vor den Augen des Publikums abläuft. Beide vertiefen sich in einen entspannten Austausch darüber, wie man lernt, an Krücken zu gehen, aber auch, was man noch so alles an Bewegungsspielereien damit machen kann. Und Jess Curtis turnt mit, selbst an Krücken. Das, wiederum, rutscht in den Bereich des Infotainment ab. Trotzdem wird körperliche Einschränkung damit nicht ausgestellt oder instrumentalisiert. Auch Jess Curtis hat so seine Probleme. Die Hüfte will nicht mehr. Arthritis. Wenn er dann unter Schmerzenslauten performt, taucht wieder der Titel der Arbeit auf, und beide diskutieren die Frage, wie man als (körperlich eingeschränkte) Person wahrgenommen wird. Wo beginnt Einschränkung? Und wann kann man „nicht mehr“ tanzen?

Das Reflektieren über die Möglichkeiten des menschlichen Körpers als Ausdrucksmittel für den Tanz hat auch die ungarische Künstlerin Boglárka Börcsök für sich entdeckt und hat mit ihrer Arbeit „Figuring Age“ ein kleines, aber überwältigendes Juwel im Festival-Programm geliefert. Gemeinsam mit dem Filmemacher Andreas Bolm hat sie 2015 drei ehemalige ungarische Tänzerinnen besucht, die im Alter zwischen 96 und 101 Jahren waren. Aus dem ursprünglichen Wunsch, mit ihnen zusammenzuarbeiten, sind eine Videoinstallation und eine Performance entstanden, die geräuschlos einander greifen und sich wechselseitig komplementieren. Eine statische Kamera blickt ohne zu urteilen in die Wohnungen der Damen, ohne sie dabei zwangsläufig in den Mittelpunkt zu rücken. Die meiste Zeit sind sie gar nicht vor der Kamera zu sehen. Und über allem eine entspannte Stille, die von gelebtem Leben zu sprechen scheint. Dann vor der Kamera spontane Tanzbewegungen, mit den Armen, im Sitzen, trotz oder gerade wegen des Alters von immenser Grazie und unmissverständlicher Ausdrucksstärke. Und dabei das schwere Atmen eines Körpers, der nicht mehr ganz so will, wie er mal konnte.

In ihrer Performance greift Boglárka Börcsök diese winzigen Details auf und lädt das Publikum dazu in einen kreisrunden, schneeweißen Bühnenraum, der ringsum geschlossen ist. Ein Bett, ein Stuhl, ein Sofa, ein kleiner Tisch. Alles ist weiß, mit weißen Tüchern abgedeckt. Der Boden: weiß. Gleißendes Licht. Boglárka Börcsök ganz in weiß. Ihre schwarzen Haare bilden einen starken Kontrast, unter dem Pony zwei fast schwarze Augen, die Einzelne im Publikum immer wieder für sehr lange Zeit fixieren. Das ist gespenstisch. Boglárka Börcsök spricht auch vom Körper als der Gruft der Seele. Sie spricht von „ghosts“; das Deutsche kennt hier sowohl den Geist als auch das Gespenst. In diesem intimen Raum fahren die Geister der mittlerweile verstorbenen Tänzerinnen in die Performerin, sie wird fragil, langsam, zittrig. Ihr Atem ist gepresst. Immer wieder bittet sie das Publikum um Hilfe, beim Hinsetzen, beim Aufstehen. Es ist unmöglich, sich ihr zu entziehen. Und sie berichten, die alten Damen, davon, wie es „damals“ war, in einer ganz anderen Zeit, als Frauen einfach keine Zeit hatten, einem Beruf nachzugehen, als sie noch keine Ärztinnen werden konnten. Sie berichten von Zeiten politischer Umschwünge, Zeiten, in denen die Arbeiterklasse keine „bourgeoisen“ Kunstformen gebrauchen konnte. Diese Frauen stecken tief in Boglárka Börcsök, und sie gehen tief unter die Haut des Publikums. Immer wieder heißt es, man solle doch näher kommen. Bis sie sich schließlich ins Bett legt. Ihre Abschiedsworte, allerdings, gelten nicht dem Leben, sondern dem Publikum. Wir sollten jetzt gehen. Die Besuchszeiten sind vorbei. Wir dürften zu einem späteren Zeitpunkt wiederkommen. Vielleicht.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern