Amerikanischer Überfall

Martin Schläpfers Abschiedsprogramm

Mainz, 22/05/2009

Was für ein Abschiedsgeschenk. Martin Schläpfers letzte Choreografie fürs Mainzer Ballett, das er in zehn Jahren zur kreativsten Ballettkompanie Deutschlands gemacht hat, ist eine neue Herausforderung, eine letztes Weiterdrehen der Spirale. „5“ zeigt uns eine sehr künstliche, ja dekadente Welt – Kunstfell, Rüschen oder Federn kringeln sich die Hälse der 18 Tänzer, bauschen sich auf Schultern oder um die Hüften. Catherine Voeffrays elegant-groteske Kostümen scheinen Schaufensterpuppen einzuhüllen, 20er-Jahre-Diven und zerknitterte Schwäne; entsorgt wurde dieser tupfenweise geballte Glamour in einer Art Industriehalle voll schwarzer Plastikplanen. Die Auftragsmusik des Briten Paul Pavey beginnt lange vor dem Stück mit einem leisen Knistern, ergeht sich in Collagen, minimalistischen Strukturen und einsamen Tenorhornsoli, bevor es rhythmisch und schnell wird.

In einem stockenden, episodisch zerklüfteten Stil erforschen Martin Schläpfers Tänzer hier nicht die Möglichkeiten ihrer eigenen Körper, sondern die Schmerzgrenze der anderen. Frauen bohren ihre Spitzenschuhen in die Füße der Männer, Marlúcia do Amaral beißt ihren Partner in die Seite und schlägt ihn, dafür presst er ihre Taille auf eine Handbreit zusammen, bis sie vor Schmerz stumm schreit. Dann trampelt die Horde der restlichen Kunstfiguren auf grellroten Plateauschuhen über die beiden hinweg, picken wie die Geier an den Liegenden herum. Elegant und mit einer Art kaltem Interesse biegt Igor Mamonov Yuko Katos Bein auf 180 Grad nach oben und hält es dort fest, noch so ein Drücken bis zum Gehtnichtmehr, noch so ein kühles Experiment am Partner. Die kurzen, heftigen, zum Teil erschreckenden Pas de deux wechseln mit verlorenen Soli und hordenartigen Auftritten der ganzen Gruppe. Gegen Ende stehen sie einfach nur noch herum, vereinsamt und desillusioniert, einzeln oder zusammen, in der Diagonale geht ab und zu einer durchs Bild oder dreht wieder um. Anders als der direkte Vorgänger „3“ arbeitet dieses herbe Ballett weniger an der Fortschreibung des neoklassischen Materials in die Zukunft, sondern geht einen großen Schritt zum Tanztheater – spannende Aussichten für das neue Ballett am Rhein!

Fast beruhigend wirkt es da hinterher, wenn mit Hans van Manen ein Choreograf seinem Stil felsenfest treu bleibt. „Simple Things“ ist acht Jahre alt und überrascht mit einer unwahrscheinlich klingenden, aber schönen Musikkombination, die mit Scarlatti auf dem Akkordeon anfängt und über Joseph Haydn direkt zum meditativen Peteris Vasks führt. Ein heiteres Männer-Duo zwischen Remus Şucheană und Bogdan Nicula wird durch die Ankunft zweier Frauen plötzlich ernst und kompliziert: man umkreist sich, beobachtet sich, findet sich schließlich zu Pas de deux, alles mit einem gewissen Abwarten und einer eleganten Distanz. Am Ende sind die Frauen wieder weg, die fröhliche Musik setzt mitsamt der anfänglichen Choreografie wieder ein und wie ein hintergründiges Lächeln taucht ein schmaler grüner Streifen am Horizont auf. Wie so oft bei Hans van Manen scheinen Männer doch die besseren Paare zu sein. Die Mainzer tanzen seine Choreografien inzwischen in ihrem ganz eigenen, souveränen Stil, bringen bei aller Eleganz und Musikalität auch ihre persönlichen Nuancen ein. „In the Upper Room“ von Twyla Tharp ist eigentlich ein Klassiker der Moderne, der es sogar bis zum Bolschoi-Ballett geschafft hat. Und doch wurde das 23 Jahre alte Werk noch nie von einer deutschen Kompanie getanzt (was, wie Martin Schläpfer im Programmheft andeutet, wohl finanzielle Gründe hat). Das Stück ist in der Tat faszinierend, aber geradezu überfallartig amerikanisch, zumal nach Schläpfers stockenden Mysterien und van Manens elegantem Understatement. Wir sehen Tanz nach dem Motto: Hauptsache es bewegt sich – hochtourig, rhythmisch, rasant, nicht einmal rasend schnell, aber niemals innehaltend, immer auf dem höchsten Energielevel. In wabernden Nebelwolken und unter der raffinierten Beleuchtung von Jennifer Tipton stecken die Tänzer zunächst in weit geschnittenen, gestreiften Schlabberoveralls, die wahlweise an Schlafanzüge oder extrem schicke Sträflingskleidung erinnern. Der wallende Stoffüberschuss verschwindet nach und nach, um darunter ein freches Rot zu enthüllen – in Trikots, Hosen, kurzen Röckchen und Spitzenschuhen. Getanzt wird nämlich, und das ist nicht nur der Gag an diesem Stück, sondern sein innerster Gedanke, sowohl auf Spitze wie in Turnschuhen: Twyla Tharp kontrastiert und vermischt die Neoklassik mit dem Modern Dance, oder besser: mit der populären Variante des Modern Dance. Was dabei herauskommt, ist eine Art Turbo-Gymnastik, athletischer Tanz auf klassischer Basis, der zwar die Virtuosität der Danse d’école behält, ihre kultivierte Reinheit aber gegen pure Kraft eintauscht. Vielleicht auch Kraftmeierei.

Die hypnotischen Skalen und treibenden Synkopen von Philip Glass ziehen uns in eine fast durchweg frontal nach vorne getanzte Choreografie hinein, die sich anfangs nur schwer von der Symmetrie der Mittelachse lösen kann und von wiederkehrenden gleichen Tänzergruppen strukturiert wird. Neben Sprüngen aller Art und komplizierten Hebungen oder Würfen setzt die amerikanische Choreografin auch gerne fröhliches Joggen ein, lieber rückwärts als vorwärts, und wartet mit vielen abrupten, manchmal fast störenden Richtungswechseln auf. Der im Grunde unorganische Stil ähnelt eher einer Reihung einzelner Bewegungen als einem flüssigen Ganzen. Dennoch wirkt das Stück grandios, mutmaßlich weil es uns grandiose Tänzer zu pathetisch anschwellender Musik zeigt, Tänzer am Rande des körperlich Möglichen. Die perfekten Interpreten dafür brauchen eine robuste Gummiballfederkraft und wachsen wahrscheinlich nur in Amerika; manchen der 13 Mainzern fällt es ein wenig schwer, von ihrer jahrelang verinnerlichten Nuancierungskunst auf dieses rückhaltlose Hineinwerfen in die pure Energie umzuschalten, ohne eine Tönung von Inhalt. Neben den nimmermüden, souveränen Leading Ladies Marlúcia do Amaral und Yuko Kato brillieren Maksat Sydykov und vor allem Bogdan Nicula, der den Direktoren unserer großen Ballettkompanien strahlend vorführt, was ihnen an superber Technik und Ausdruckskraft entgeht, wenn sie ihre Augen immer nur auf langweilige 1,80-m-Prinzen richten.

www.staatstheater-mainz.de

Kommentare

Noch keine Beiträge