Geschenke für tote Kinder

In Fürth erinnert ein außergewöhnliches Tanzprojekt an 33 Waisenkinder, die von den Nazis ermordet wurden - ein Gespräch mit der Initiatorin Jutta Czurda

Fürth, 27/11/2007

„Mayim Mayim“ heißt das ungewöhnliche Tanzprojekt im Stadttheater Fürth, für das 33 Tänzer und Tänzerinnen aus aller Welt anreisten. Hartmut Regitz sprach mit der Initiatorin des Projekts.

Frage: Jutta Czurda, die Stadt Fürth feiert 2007 ihr 1000-jähriges Stadtjubiläum und erinnert vom 29. November bis 2. Dezember mit „Mayim Mayim“ im Stadttheater gleichzeitig an eines der dunkelsten Kapitel des so genannten Tausendjährigen Reichs – an die 33 Kinder eines jüdischen Waisenhauses, die am 22. März 1942 von den Nazis deportiert und später im Vernichtungslager Belzec ermordet wurden. Warum? 

Jutta Czurda: Ich lebe seit fast zwanzig Jahren in Fürth, seit langem hat mich dieses Stück der Stadtgeschichte beschäftigt und bewegt. Das, was jetzt in diesem 1000-jährigen Jubiläum der Stadt zur Realisierung kommt, ist nicht nur dem so genannten Zufall zu danken, sondern auch der Absicht, es im Jubiläumsjahr so zu platzieren, dass es entsprechend wahrgenommen wird. Es handelt sich dabei nicht um einen Versuch, das Geschehene als ein Requiem zu begreifen. Vielmehr will ich mit „Mayim Mayim“ in Erinnerung an die ermordeten Kinder für junge Leute einen Raum der Begegnung schaffen.

Frage: Wie hat die Stadt auf das Projekt reagiert? 

Jutta Czurda: Positiv. Man ist sich inzwischen wieder bewusst, dass die jüdische Hand in der Vergangenheit viele Stiftungen der Stadt stark mitgefördert hat. Auch das Stadttheater Fürth, an dem ich seit über zehn Jahren arbeite, ist 1898 zum erheblichen Teil von jüdischen Mitbürgern finanziert worden. 

Frage: Steht und stand denn Fürth in einer Konkurrenz zur benachbarten Stadt der Reichsparteitage? 

Jutta Czurda: Nürnberg war auch nach dem Krieg in der Außenwahrnehmung immer die Stadt der Reichsparteitage und der Nazi-Prozesse. Fürth dagegen, das „fränkische Jerusalem“, praktizierte eine Toleranz, die andernorts nicht im gleichen Maße gegeben war. So gab es hier seit 1657 eine Jeschiwa, eine Hochschule zum Studium des Talmud. Neben den ärmeren Städel-Juden bildete sich in der Arbeiterstadt Fürth ein assimiliertes jüdisches Bürgertum heraus, das die Kultur stützte. 

Frage: Was die Entwicklung im Dritten Reich allerdings nicht aufhalten konnte – sonst gäbe es nicht dieses Projekt. 

Jutta Czurda: Hier wurde genauso gewütet wie anderswo. Die eigentliche Synagoge wurde 1938 abgerissen. Heute dient das ehemalige Waisenhaus einer auf 300 Mitglieder geschrumpften Gemeinde als Ort der Andacht. 

Frage: Zurück zu „Mayim Mayim“. Wie sieht das Projekt aus? 

Jutta Czurda: Um die Waisenkinder wieder in unsere Mitte zu holen, suchte ich für sie erst einmal Paten. Ich schrieb also dreiunddreißig Choreografen an und bat sie, für jeweils ein Kind eine choreografische Partnerschaft zu übernehmen – und zwar dergestalt, dass sie nach Fürth einen Tänzer ihres Vertrauens entsenden, mit einer dreiminütigen Solo-Choreografie im Gepäck. 

Frage: Das mussten nicht unbedingt neue Choreografien sein? 

Jutta Czurda: Entweder schickt ein Choreograf ein Stück aus einem bestehenden Werk oder sucht sich einen Tänzer seiner Wahl aus, der selbst choreografiert, und erteilt ihm quasi den Segen. Zwei Drittel der Arbeiten stammen aus Werken der angeschriebenen Choreografen. Drei oder vier der Arbeiten sind speziell für diesen Anlass kreiert. 

Frage: Gab es für die Choreografien Themenstellungen, die sich einem Zusammenhang leichter einordnen lassen? 

Jutta Czurda: Nein, die Choreografen sollten einfach etwas schenken, woran ihr Herz hängt. Nicht ein dramatisches Erzählstück ... à la „Korczak und seine Kinder“ ... war die Absicht des Abends, eher eine Art von Lebensfeier. 

Frage: Doch wonach richtete sich die Auswahl der Angeschriebenen? 

Jutta Czurda: Einige kannte ich aus unserer Gastspielreihe am Stadttheater Fürth. Mit anderen war ich befreundet. Wichtig waren mir israelische Choreografen, von denen fünf zugesagt haben. Die erste, die auf meine Anfrage reagiert hat, war Yehudit Arnon, die Gründerin der Kibbutz Dance Company und selbst eine KZ-Insassin. Sie lud mich nach Israel ein und arrangierte ein Schabbat-Essen mit Rami Be’er und dessen Eltern, bei dem wir unsere „Geschichten“ miteinander konfrontierten. Mein Großvater war während des Kriegs Leiter des SD in Krakau und als solcher ein Partner von Oskar Schindler. Gespielt von Friedrich von Thun taucht er auch in dem Film „Schindlers Liste“ auf. 

Frage: Inhaltliche Vorgaben für die choreografischen Patenschaften haben Sie nicht gemacht, wohl aber zeitliche Limitierungen. 

Jutta Czurda: Um dem Stück eine Gegenwärtigkeit zu geben, entschieden wir uns letztlich im Begegnungsprozess für Live-Musik. Deshalb die Bitte, entweder das Solo ohne Musik einzuschicken oder uns die Erlaubnis zu geben, ihm eine Live-Musik entgegenzusetzen. 

Frage: Doch wie entsteht daraus ein Ganzes? Wird die Musik improvisiert? 

Jutta Czurda: Anhand eines Prozesses von sechs Wochen bauen wir, d. h. mein musikalischer Leiter, meine Dramaturgen und ich anhand der Videos einen Abend zusammen und versuchen eine Art von musikalischer Partitur zu entwerfen, die eine bestimmte Dynamik hat. Wir nehmen die Essenz oder die Stimmung des jeweiligen Stücks auf und entscheiden dann, welche Instrumente dem Solo zugeteilt werden. Das kann mal improvisatorisch sein, kann aber auch konkreter sein. Ich will versuchen, dass aus den Drei-Minuten-Stücken am Ende ein Erinnerungsraum wird, ohne dass die einzelnen Soli ihr Leuchten verlieren. 

Frage: Die Patenschaften erschöpfen sich nicht in der kostenlosen Mitarbeit von Choreografen. Auch die Einwohner von Fürth sind auf ihre Weise gefordert. Sie erhoffen sich von „Mayim Mayim“ nicht ein Augenblickseindruck, sondern etwas Folgenreicheres. 

Jutta Czurda: Vor einem Jahr haben ich den ersten Patenschaftsabend im Theater veranstaltet, bei dem ich versucht habe, Menschen zu gewinnen, die Tänzer aus aller Welt bei sich zu Hause als Gast willkommen heißen, Herz und Hirn zu öffnen, und eine Begegnung mit anderen Kulturen und Lebensweisen herbeizuführen – auf dass sich für die Fürther das Stück, die Geschichte der Stadt und ihre persönliche Geschichte anders verwurzeln kann. Da war wirklich eine warmherzige und überwältigende Resonanz. Wir haben jetzt die 33 Familien für die vierzehn Tage. Darüber hinaus versuchten wir, für die 33 Tänzer finanzielle Paten zu finden. Das war schon etwas schwieriger. Aber schon beim ersten Abend stand als erste eine Frau auf und übernahm mit ihrem Mann die Patenschaft für fünf Kinder und gab uns 10 000 Euro in die Hand. 

Frage: Ein Signal? 

Jutta Czurda: Ein ermutigendes Signal. Schließlich wünsche ich mir von dem Projekt nicht bloß Begegnungen, von denen wir alle lernen, sondern für diesen ganzen Kunst- und Kulturbetrieb, der ja häufig schnelle Erfolge sucht, eine Ermunterung, sich wieder mit Themen zu beschäftigen, die tatsächlich auch ins persönliche Leben und in eine Stadtgeschichte hineingreifen. Dass Choreografen wie Germaine Acogny, Anne Teresa De Keersmaeker, Susanne Linke, Ohad Naharin, Hofesh Shechter oder Sasha Waltz, um nur ein einige zu nennen, etwas schenken, ohne groß nach dem Umständen zu fragen, hat mich sehr bewegt und stimmt mich hoffnungsvoll.

Link: www.stadttheater.fuerth.de

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