„Molière“

Ballett von Hannovers neuem Ballettchef Jörg Mannes

Hannover, 13/11/2006

Hannovers neuer Ballettchef Jörg Mannes, über Stationen in Bremerhaven und Linz in die Leinstadt gekommen, geht gleich in die Vollen, beschäftigt bei seinem Antrittsballettabend an der Staatsoper sein komplettes, bis auf wenige Tänzer neu zusammengestelltes Ensembles. Sie sind gut trainiert, technisch meist sattelfest, mit sehr weichem Plié nach Sprüngen, die Frauen, allesamt auf Spitze, haben dabei vor den Männern die Nase vorn.

Eine herausragende Persönlichkeit schält sich (noch) nicht heraus, aber entwicklungsfähige Begabungen wie zum Beispiel die offenbar blutjunge, ausdrucksvolle, exakt und natürlich phrasierende Tänzerin der Armande (Catherine Franco) im Liebes-Pas-de-deux Molière-Armande - eine der stärksten Szenen des Abends - zu Ravels „Pavane pour une infante defunte“. Seine choreographische Visitenkarte präsentiert Mannes mit „Molière“, der tänzerischen Nachzeichnung – so behauptet es das Programmheft – des Lebens und Wirkens des Theaterautors, zu Zeiten Ludwigs XIV. Schöpfer des comédie ballet (z.B. mit Bürger als Edelmann). Wie vor einigen Jahren in seiner Bremerhavener Produktion „Faust-Mephisto-Margarethe“ vervielfacht Mannes die Hauptpersonen: viermal Molière, sechsmal Madeleine (Geliebte), siebenmal Armande (seine Ehefrau), dreimal Lully (Komponist und Widersacher), gewinnt dadurch allerdings keine tieferen Einblicke in die jeweilige Figur.

Im totalen Gegensatz zum Stil seines Vorgängers Stephan Thoss, der die atemlose, harte und eckige Rasanz pflegte, meist mehr hektisch als dramaturgisch stringent, bevorzugt Mannes ein weiches, klassisch grundiertes Idiom, hier und da vorsichtig gebrochen zu Bodenarbeit und gedrehten Hebungen bis zu fast akrobatischen Formen. Gern bewegt er wuselige „Massen“, in die Tiefe gestaffelt. Im ersten Akt plätschert das Geschehen bei ziemlich beliebig gestreutem Bewegungsmaterial weitgehend konturlos dahin, Charaktere werden daher kaum profiliert, können mehr oder weniger nur durch die Farbe der Kostüme oder einen Blick in die im Programmheft aufgeführte Szenenfolge identifiziert werden.

Es fehlen die sichtbaren Reibungsflächen zwischen den Kräften Molière-Lully am Hof von Ludwig XIV, der selbst ein leidenschaftlicher Tänzer war, von dem vermutlich der entrechat royal herrührt. Der Monarch taucht bei Mannes nicht auf: Vertane Chance?! Mannes verwendet weder Texte Molières noch Musik von dessen Zeitgenossen, etwa Jean-Baptiste Lully oder Marc-Antoine Charpentier, die Musik zu den Komödien schrieben. Er zieht eine musikalische Linie von Jean Philipp Rameau, Mozart über den weitgehend unbekannten Arthur Foote (1853-1937) bis zu Ravels „Tombeau de Couperin“, Charles Ives „Unanswered Question“ und Luciano Berios Instrumentation von Bachs Kontrapunktus XIX als Schlussnummer.

Die Kostüme (Lenka Radecky-Kupfer) weisen nur hier da barocke Andeutungen wie einen stilisierten Reifrock auf. Die Männer treten in Kniehosen mit ärmellosem Wams auf, die Frauen mit meist engem Oberteil, ebenfalls ärmellos, einer Art Hotpants bei nackten Beinen. Die Madeleines tragen fließende, knöchellange Röcke.

Bühnenbildner Lars Peter baut dazu geometrisch strukturiertes Ambiente: Hinten eine weiße Wand, unterteilt durch Quadrate, mit einer Art Tor in der Mitte, links und rechts drehbare, dreiflächige Segmente (je nach Stellung mit einer Projektion barocker Formen, dem inneren Stützgestänge oder dem Weiß der Rückwand), dazwischen Platz für Auftritte und Abgänge. Nach einiger Zeit fährt in der hinteren Hälfte eine zweite Bühnenfläche hoch. Das hat seinen visuellen Reiz. Durch das kühle Bühnenbild tritt die Blässe der Bewegungserfindung von Mannes umso deutlicher hervor. Der zweite Akt ist straffer gebaut, da reibt sich der „Intrigant“ Lully dreifach an Molière, wird von der Gruppe über deren Köpfe gehoben, ist also „oben“. Molière unterliegt, stirbt zu Ives Komposition, das Ensemble nimmt zu Berios Bach-Instrumentation die Stimmung des Anfangs auf, deutet Schreie an, ahmt gestisch dramatisches Spiel nach. Schließlich schwärzt sich die Bühne ein, nur im Hintergrund tauchen als Schattenspiel Molières auf: Er lebt als Autor weiter, soll das heißen.

Mannes bleibt noch Einiges zu tun auf dem Weg zum Choreographen mit unverwechselbar eigenem Stil. Sein Ensemble bietet ihm dazu viele Möglichkeiten. Dirigent Andreas Wolf führt das Orchester zu aufmerksamen Spiel, ist anscheinend mehr zu Hause bei Ravel und Ives als bei Couperin und Rameau, bei denen, ähnlich wie in Berios Kontrapunktus, mehr weich als klar durchhörbar musiziert wird.

 

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