Ehrgeizige Pläne, viel Mittelmaß und ein paar Spitzen

Die Bilanz der Spielzeit 2005/06

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Stuttgart, 24/08/2006

Nein, DAS große internationale Ereignis wie das Kopenhagener Bournonville-Festival im vorigen Jahr hat es in der Spielzeit 2005/06 nicht gegeben! Und auf nationaler Ebene? Ob da wohl der Ende Januar 2006 von der Kulturstiftung des Bundes bekanntgegebene „Tanzplan vor Ort“ oder die im März in Berlin ins Leben gerufene „Ständige Konferenz Tanz“ eines Tages als historische Eckdaten eingestuft werden? Oder die beiden ebenfalls Berliner Initiativen des Kulturzentrums für Musik und Tanz, genannt „Radialsystem“, beziehungsweise der mit viel Tamtam veranstaltete Tanzkongress „Wissen in Bewegung“? Ich bin da eher skeptisch. Wie ich auch nicht daran glauben kann, dass die – ausnahmsweise nicht in Berlin, sondern in Stuttgart Ende Februar präsentierte „Tanzplattform Deutschland 2006“ nachhaltige Folgen zeigen wird. Versuchen wir also in kleinerer Münze die Summe der Ereignisse in der abgelaufenen Saison zu bilanzieren.

Da zunächst wieder der Hinweis, dass ich nur berücksichtigen kann, was ich selbst erfahren habe. Also kann ich unmöglich statuieren, dass die beste Ballettkompanie der Welt das New York City Ballet oder das Ballett der Pariser Opéra ist, beziehungsweise dass ich sie dafür halte – denn ich habe sie nicht gesehen. Das Ballett des St. Petersburger Mariinsky-Theaters haben wir allerdings in Baden-Baden zu Gast gehabt – sicher eine der Top-Kompanien der Welt! Aber DIE Kompanie aller Kompanien? Trotzdem: ganz ohne Superlative komme auch ich nicht aus – im Positiven wie im Negativen. Nur möge man sich dabei bewusst sein, dass das alles Urteile sind, die aus meiner ganz persönlichen Stuttgarter Perspektive gefällt sind.

Also die beste Kompanie im deutschsprachigen Raum gibt es meiner Meinung nach nicht. Und so rangieren für mich in alphabetischer Reihenfolge Berlin, Hamburg, München, Stuttgart und Zürich auf annähernd gleicher Ebene, allerdings auf verschiedenen Plätzen. Und dann haben wir ja auch noch den au concours existierenden William Forsythe und seine Truppe (von Pina Bausch und ihren Unermüdlichen ganz zu schweigen). Und das finde ich toll, dass jede dieser Kompanien ihr eigenes Profil hat. Hoffen tue ich übrigens inständig, dass sich in der Bilanz der nächsten Spielzeit auch noch Dresden dazugesellt.

Die beste abendfüllende Kreation: für mich eindeutig Peter Breuers Salzburger „Tschaikowsky“. Und der beste neue Einakter: Marco Goeckes Stuttgarter „Viciouswishes“. Die beste Opern-Ballett-Koproduktion ist für mich Phyllida Lloyds und Kim Brandstrups „Untergang des Hauses Usher“ von Claude Debussy und Robert Orledge bei den Bregenzer Festspielen. Und als bester Import rangiert Christopher Wheeldons „Continuum“ in Zürich – dort übrigens im Rahmen eines Dreiteilers zusammen mit Jirí Kyliáns „Stepping Stones“ und Heinz Spoerlis neuen „Les Noces“ (für mich das künstlerisch ergiebigste Programm der Saison).

Kurios die Tschaikowsky-Konzentration – ganz ohne Gedenktaganlass: nicht nur bei Breuer in Salzburg, sondern auch bei Bernd Schindowski in Gelsenkirchen, bei Tomasz Kajdanski in Eisenach, bei Boris Eifman in Berlin und bei Ivan Cavallari in Wien (nicht zu reden von all den Tschaikowsky-Klassikern à la „Schwanensee“ und der Tschaikowsky-(et al.)-„Anna Karenina“ in Karlsruhe). Doch welch eine Qualitäts-Achterbahnfahrt!

Schwerer tue ich mich mit der Nominierung der Tänzer, die mich am stärksten beeindruckt haben. Sicher Lucia Lacarra und Lisa-Maree Cullum in München, in Stuttgart Maria Eichwald, Katja Wünsche und Friedemann Vogel sowie Vladimir Malakhov in Berlin (aber er tut sich wirklich keinen Gefallen, sich als „Tänzer des Jahrhunderts“ vermarkten zu lassen). Und als Gäste: Alina Cojocaru und Johan Kobborg vom Royal Ballet. Den Wunderknaben aus Wiesbaden, Daniil Simkin, habe ich leider noch nicht gesehen. Und so waren meine aufregendsten Neuentdeckungen: der trotz seines unaussprechlichen Namens 23-jährige Deutsche Moritz Ostruschnjak bei Daniela Kurz in Nürnberg und William Moore sowie Roland Havlica bei Marco Goecke in Stuttgart.

Immer wieder erfreulich: die stetige Entwicklung bei Martin Schläpfer in Mainz und auch bei Birgit Keil in Karlsruhe mit ihrem choreografischen Senkrechtstarter-Twen Terence Kohler (dessen „Anna Karenina“ ich im Gegensatz zu manchem respektierten Kollegen für eine außerordentlich vielversprechende Talentprobe halte – interessanter jedenfalls als der Eifman-Import aus St. Petersburg). Und natürlich die Woge der Jugendtanzprojekte im Gefolge von Royston Maldoom.

Fehlanzeige, leider, dass es kein Gegenstück zu Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchester mit Tänzern aus Israel, Palästina, Syrien, Jordanien, Ägypten und Europa gibt! Die wichtigste Tanz-Buchproduktion: nicht das farborgiatische „Malakhovs Dornröschen“, sondern der mit so exquisitem Knowhow und Geschmack produzierte Band „Schritte verfolgen“ über Susanne Linke. Eher traurig stimmt mich der Fehlstart der neuen Wiener Ballettdirektion (und keine Hoffnung auf Besserung nach der Ankündigung von Eifmans „Anna Karenina“ als Hauptproduktion an der Staatsoper). Schnöde, und nicht gerade von guten Umgangsmanieren zeugend, die Ausbootung so verdienstvoller Persönlichkeiten wie Stephan Thoss in Hannover, Torsten Händler in Chemnitz und – bevorstehend – Philip Taylor in München und Ben van Cauwenbergh in Wiesbaden.

Und die negativsten Eindrücke? Sicher die beiden pampigen Berliner Gastspiele von Meg Stuart und Sasha Waltz bei der Tanzplattform in Stuttgart und der dürftige Abend in Leipzigs Musikalischer Komödie. Ärgerlich der prätentiöse Unfug von Michael Simons „In the Country of Last Things“ in München. Und dabei habe ich mir die offenbar schlimmste Erfahrung noch erspart, indem ich meine schon geplante Reise nach Wien kurzfristig abgesagt habe.

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