Moritz Ostruschnjak: „Rabbit Hole“

Moritz Ostruschnjak: „Rabbit Hole“

Mit Rasanz und Stille durch den Cyber-Tunnel

Die Uraufführung von Moritz Ostruschnjaks „Rabbit Hole“ zum Auftakt des Dance-Festivals 2023

Moritz Ostruschnjaks „Rabbit Hole“ eröffnet mit einer Uraufführung das Dance-Festivals 2023 in München. Eine Fortsetzung bekannter Ästhetiken oder doch mehr?

München, 13/05/2023

Mit Neonleuchten über der Schulter als seien es Lichtschwerter – so marschieren Guido Badalamenti, David Cahier, Daniel Conant, Roberto Provenzano, Miyuki Shimizu und Magdalena Agata Wójcik in die Muffathalle ein. Seitlich kommen sie am Zuschauerraum vorbei, der am 11. Mai, dem Eröffnungsabend des 18. Internationalen Festivals für zeitgenössischen Tanz in München, bis auf den letzten Platz besetzt ist. Das imposante Premieren-Heimspiel für den Choreografen Moritz Ostruschnjak und dessen handverlesene Tänzerpersönlichkeiten wird mit Spannung erwartet. Die Neukreation trägt den Titel „Rabbit Hole“.

Auf dem noch dunklen Spielfeld warten große Aufsteller auf ihren Einsatz. Im Dunkeln könnte man sie anfangs für Hasen, Riesenohren, Tassen etc. halten. Immerhin hat sich der Choreograf für sein jüngstes Stück laut eigener Aussage neben russischen SciFi-Autoren auch Ideen und Anregungen aus Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ geholt. Aber so arbeitet Ostruschnjak nicht, wenn er sich choreografisch einmal mehr in die Untiefen des Internets gräbt.

Als seine sechs Protagonisten ihre langen Leuchtkörper vor den Pappfiguren platzieren, lassen sich unter anderem ein Reh, ein Mühlstein – er wird später von Daniel Conant zum Kinderlied „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“ durch den Raum gerollt –, ein Spacewurm und eine behandschuhte Hand am Revolver ausmachen. Es sind flexible Kulissen in einem Kosmos digitaler Fantasiewelten und imaginärer Situationen, durch die sich die Tänzerinnen und Tänzer vor den Augen des Publikums von Stimmung zu Stimmung oder Krise zu Krise vorarbeiten – emotional oder situativ.

Die Interpret*innen sind äußerst präsent in ihrem abgefahrenen Ausdruck und in ihrer technisch abgehobenen Versiertheit: als Paket eine einfach unschlagbar tolle Crew. Dass sie Gefühle und aus dem World Wide Web zusammengeklaubte, dekonstruierte und neu miteinander verkoppelte Aktionen in andere thematische Zusammenhänge transferiert vorwärts wie rückwärts tänzerisch perfekt auszuführen wissen, haben sie allerdings schon auf das Beste und Originellste in Ostruschnjaks vorangegangenen Erfolgstücken „Yester:Now“ (Wiederaufnahme am 10./11.6. in der Isarphilharmonie) und „Terminal Beach“ unter Beweis gestellt.

Soweit der Wermutstropfen in einer hintergründig-bombastischen Uraufführung, deren formaler Webteppich sich im Grunde in einer Art Fortsetzung entlädt. Nichtsdestotrotz lässt „Rabbit Hole“ München als Kreativort für abendfüllende zeitgenössische Produktionen mit gesellschaftspolitischer Relevanz, inszenatorisch in sich verschränkter Dichte, unerwarteten Stimmungswechseln und einem sogkräftigen Strudel aus mitreißenden Nummern glänzen.

Rasanz, pompöse Lautheit und Best-of-the-Show-Momente werden von ganz stillen, langsamen und auch irritierend nahegehenden (Solo-)Szenen abgelöst. Fabelhaft ineinander verwoben findet sich hier Zartes und Grausames, Ernstes und Groteskes, Teufels Werk und göttliche Magie. Mit visuellen und musikalischen Wiedererkennungseffekten wird ebenso gespielt wie unter akustischem Geballere zwischen den hier mittig aufgestellten Kartonobjekten als ob die Tänzer*innen heroische Bestandteil eines Gewalt-Gamings sind, bei dem Leben und Tod einander jagen.

Ein inszenierter Tunnelblick kitzelt freie Assoziationen hervor. Die im Hintergrund schwebende riesige Projektionswand, über die während einer Stunde Illuminationen alter Buchseiten, Details aus Dürers Kupferstich „Melancholia“ und ein nächtliches Gänsehaut-Video von auf Schafe hungrigen Wölfen wandern, dient den Performer*innen wiederholt als findiger Unterschlupf. Keine Frage, „Rabbit Hole“ ist gut gemachter Tanz auf einem Vulkan, in dem permanent Zeitgeschehen und die Einflussnahme des Internets auf uns Menschen vor sich hin köchelt.

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