Munich Vibrations
UNDER|DOX – 19. Internationales Filmfestival in München
Wenn vergangene Woche in der Münchner Tanzwelt Eines klar geworden ist, dann, wie stolz man auf die hier vielfältig wirkenden Protagonist*innen der freien Tanzszene ist. Gar als „Wiege des modernen Tanzes“ wird die bayerische Landeshauptstadt von den drei Macher*innen der Munich Dance Histories bezeichnet: Thomas Betz, Barbara Galli-Jescheck und Brygida Ochaim, die allesamt handfeste Beweise für dieses selbstbewusste Statement liefern wollen. Die dazugehörige Website versteht sich als Vermittlungsprojekt, Diskussionsplattform wie auch als „lebendiges Archiv“ und ist Teil des gleichnamigen Pilotprojekts des Münchner Kulturreferats; hervorgegangen war dieses Projekt von der erfolgreichen „DANCE History Tour“ 2019 bzw. 2021 des Münchner DANCE-Festivals unter der künstlerischen Leitung Nina Hümpels.
Hatte sich die Initiative zunächst der Entwicklung des freien modernen Tanzes Anfang des 20. Jahrhunderts gewidmet, so wagten die Konzeptor*innen des ersten „Salons“ nun einen Blick auf eine besondere Entwicklungslinie Münchner Tanzgeschichte – die Suchbewegungen der freien Tanzszene in den 1970er Jahren. Einer Zeit, in der Tanzikonen wie Pina Bausch oder Johann Kresnik das Tanztheater etablierten und den modernen Tanz von Deutschland aus revolutionierten. Performancekunst belebte damals den Münchner Marienplatz auf bislang ungeahnte Weise oder Experimente des freien modernen Tanzes brachten in all ihrer Diversität u. a. die Moll- und Alabamahalle zum Vibrieren. Hierfür kamen Tanzschaffende - wieder einmal - aus den USA, Schweden oder Japan andernorts und fanden in München, wo zunächst Brachland herrschte, ‚guten Boden‘ für die Entfaltung ihrer eigenen Ideen.
Um diesen ‚Münchner Tanz Geschichten‘ nachzuspüren, luden die Verantwortlichen der Munich Dance Histories am Samstagnachmittag in den Gasteig HP8 Protagonist*innen ein, die die Münchner Tanzrevolutionen angeschoben hatten und die Stadt mit ihrer eigenen tänzerischen Persönlichkeit prägten: Allen voran Jessica Iwanson, die es von Paris und New York nach Bayern verschlug, und die hier ihre – bis heute erfolgreiche – Schule eröffnete, die zur Form- und Heimstätte verschiedener Größen der freien Tanzszene Münchens wurde. Das bis heute aktive ‚Choreografen-Urgestein‘ Micha Purucker hatte hier gelernt, Prof. Dr. Jenny Coogan unterrichtet. Pendelte Coogan künstlerisch immer wieder zwischen München und Dresden, so zog es Leonore Ickstadt – die noch bei Mary Wigman selbst in Berlin gelernt hatte – von der Hauptstadt nach München, wo sie zwischen „Erbsensuppe“ an der Uni-Mensa oder Kinostühlen im Ari-Kino tanzte, auf der Suche nach geeigneter Münchner Spielstätte.
Ein Thema, das einen weiteren Gesprächspartner des „Salons“ bis heute massiv herumtreibt, und der wie wenig andere das zeitgenössische Tanzgesicht der bayerischen Landeshauptstadt geprägt hat: Walter Heun. Bereits in einer BR-Filmdokumentation von 1990 stellte der junge Heun entschieden fest: „Es mangelt an Spielorten“ – leider behält er damit seit viel zu langer Zeit recht. Weitere Sprecherinnen waren Christine Hasting, die gerade einmal 20-jährig die renommierte Schule ihrer Mutter übernommen hatte, und Bettina Wagner-Bergelt, die 1985 zunächst am Kulturreferat München tätig wurde, und die sich seither sowohl den Staatstheatern als auch vor allem der freien Szene beruflich verpflichtet fühlt. Als ersten Schritt der „Institutionalisierung der freien Szene“ bezeichnet die ehemalige stellvertretende Direktorin des Bayerischen Staatsballetts die Gründung der Tanztendenz e. V. als bundesweit erster Choreografen-Vereinigung ein Meilenstein.
Leichterhand moderiert wurden die beiden zufällig zusammengewürfelten Gesprächsrunden durch Tanzwissenschaftlerin Prof. Dr. Katja Schneider, die zu jeder einzelnen Person nicht nur eine berufliche, sondern auch enge private Verbindung pflegt. Sie alle waren in adventlicher Atmosphäre bei Glühwein und Spekulatius im vollbesetzten Saal X zusammengekommen, um „das Lebendige an der Geschichte der freien Tanzszene“ zu zelebrieren, wie Dr. Daniela Rippl vom Münchner Kulturreferat in ihrer Begrüßungsrede betonte. Wie wichtig die Initiative der Munich Dance Histories nicht nur ihr persönlich sei, sondern dass diese einen bedeutsamen Beitrag leiste zur „Vermittlung ästhetischen Guts in München an die junge Generation“, wurde in ihrer Ansprache mehr als deutlich. Mit den Munich Dance Histories soll es weitergehen, weitere „Salons“ folgen. Ohne jede Frage, hier wurde ein Stein ins Rollen gebracht, und man darf auf weitere Teile dieses geglückten Vermittlungsmosaiks gespannt sein.
Gespannt sein darf man auch auf die weiteren ästhetischen Entwicklungen sieben aktiver Choreograf*innen der heutigen freien Tanzszene Münchens, die in einfühlsam geführten Kurzportraits (Konzept / Regie: Miria Wurm, Interviews: Terence Kohler; Kamera: Anne Gryczka / Rue Nouvelle) dargestellt wurden. Hierfür luden die Initiatorinnen des 20-minütigen Kurzfilms, Tina Meß und Simone Schulte-Aladag vom Münchner Tanzbüro, vergangenen Mittwochabend ins rotplüschige Ambiente des Schwabinger Monopol-Kinos ein, wo das Filmportrait „7 thoughts about dance“ (2022) im Rahmen der Reihe MittDOKs-Delikatessen seine Uraufführung erlebte und anschließend kräftig gefeiert wurde. Entstanden war der Film als Teil einer Marketingkampagne für die freie Münchner Tanzszene, welche es sich zum Ziel gesetzt hatte, das internationale Potential und die hohe ästhetische Qualität der Protagonist*innen zu honorieren und ihnen zu noch breiterer überregionaler Sichtbarkeit zu verhelfen.
Wie vielfältig die Ansätze und Handschriften der Münchner Choreograf*innen-Talente sind, davon konnte man sich anhand des Hochglanz-Filmportraits abermals überzeugen: Einer der Portraitierten, der über die Landesgrenzen hinaus von sich reden macht und es auf den Punkt bringt, ist Moritz Ostruschnjak: Es sei nicht möglich, die ganze Breite der freien Münchner Tanzszene „unter einen Banner zu setzen.“ Hier könnte man ergänzen, vielleicht nicht in der Breite, aber in der Tiefe.
Baut Anna Konjetzky mitunter auf die Kraft der Performance im Rahmen eines klardefinierten Zuschauerraums, in dem sich die verschiedenen Blicke des Publikums zwangsläufig treffen und miteinander in Dialog treten müssen, so bezeichnet Ceren Oran die Entdeckung des öffentlichen Raums mit ihren „Urban Dance“-Konzepten als künstlerischen Wendepunkt: Das „wahrheitsgemäße Feedback“, das sie erhalte, sei für sie besonders kostbar, und die Tatsache, dass „jeder Mensch sich bewegen und gehen könne“, bezeichnet die Künstlerin als „echte Brücke zwischen den Menschen“.
Ostruschnjak, der als „Mash-Up Spezialist mit TikTok-Dramaturgie“ umschrieben wird, baut in seinem choreografischen Schaffen auch auf das Potential des Internets, als „immer verfügbarem Archiv“, das es „in die Realität zurückzuführen“ gelte. Micha Purucker glaubt hingegen an die Kraft und den Zauber der analogen Welt, anhand derer er ein Zeichen gegen die „Überflutung digitaler Bilder“ setzen will.
Die kanadische Choreografin und Filmemacherin Jasmine Ellis versteht sich selbst als „Storytellerin“. Je „fragiler und persönlicher diese Geschichten“ seien, desto spannender sei es, davon zu erzählen: „I‘m interested in stories people are afraid to tell.“ Sollten ihr die Worte zum Geschichtenerzählen fehlen, sei der Körper ein überaus verlässliches Instrument, das eine universelle Sprache spreche. Vom Potential alles Physischen ist auch Italiener Diego Tortelli überzeugt, der sich als „besessen vom Körper“ outet, allerdings „nur für andere Körper“ choreografieren und „durch seine eigenen Augen kreieren möchte“.
Im Gegensatz zu den beiden vor ihm Portraitierten ist Stephan Herwig – gern als ‚Purist‘ der Münchner Tanzszene bezeichnet –, häufig zwischen seinen Tänzer*innen auf der Bühne zu erleben und ein Geschichtenerzählen interessant ihn kaum – im Gegenteil, er versucht alles Erzählende um jeden Preis „zu vermeiden“. Nicht das Narrative liege ihm im Sinn, sondern einen „Raum zu kreieren“, womöglich um sich selbst dort zu entdecken und vor allem, um sich selbst „zu erspüren.
Einen Raum zu finden für sich selbst – und andere – kann hier durchaus auch in einem anderen Kontext verstanden werden: Neue Räume zu finden, neue Räume zu erschaffen – dies war seither Anliegen der Protagonist*innen der freien Tanzszene, damals, vor einem halben Jahrhundert, wie heute. Die Kluft zwischen den etablierten Staatstheatern und der freien Tanzszene gilt es nach wie vor zu überwinden, und auch, wenn die Lage der heutigen Akteure deutlich besser aussieht, als vor 50 Jahren, so sind die Probleme im Grunde noch immer dieselben: Die stetige lähmende Suche nach Förderern, Proben- und Trainingsräumen, gesicherten finanziellen Arbeitsbedingungen und letztlich generell das Bemühen, um eine Ausgewogenheit von Aufwand und Resultat. Die Produktionen seien zwar mehr geworden und vielfältiger, so Purucker im Nachgespräch, der Etat wurde festverankert und deutlich erhöht – von damals 370.000 Mark auf nun rund 2,3 Millionen Euro –, dennoch sei man längst nicht am Ende des Weges, den es gemeinsam zu gehen gilt, angelangt. Noch immer müsse es mehr werden, was die Akteur*innen der freien Szene in ihren Händen hielten, als eine ganz große Portion an „Idealismus, Träume und Freiheit“. (Angelika Meindl, Gründungsmitglied Tanztendenz). Mut zur Eigeninitiative ist etwas Wunderbares, dabei allein bleiben, soll und darf es jedoch nicht, hierüber sind sich zum Glück derzeit sehr viele Menschen einig. Die sieben genannten und vielen ungenannten, unverwechselbaren Persönlichkeiten der freien Münchner Tanzszene gilt es also weiterhin nach Kräften zu fördern, sind sie doch das vielgestaltige tänzerische Gesicht der Stadt München. Festzuhalten bleibt: Der zeitgenössische Tanz boomt derzeit gewaltig in München – sorgen wir dafür, dass es so bleibt!
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