Mit harten Bandagen

Marie Chouinard eröffnet den „Tanz im August“

Berlin, 12/08/2005

„bODY_rEMIX/gOLDBERG_vARIATIONS“ ist der Titel von Marie Chouinards neuester Produktion, die vor acht Wochen auf der Biennale in Venedig Premiere hatte und nun das größte deutsche Tanzfestival eröffnen durfte. In den Eröffnungsansprachen der künstlerischen Leiter des 17. „Tanz im August“, Ulrike Becker, Bettina Masuch und André Thériault, sowie der Berliner Staatssekretärin für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Barbara Kissler, wurde das Selbstbewusstsein hervorgehoben, mit dem sich der Tanz in Berlin neuerdings positioniert. Die von den Rednern in das Eröffnungsstück gesetzten Erwartungen waren hoch.

Zu den elektronisch stark manipulierten Goldberg-Variationen in der Interpretation von Glenn Gould erforschen Tänzer mit Krücken, Gehwagen, Spitzenschuhen und anderen Hilfsgeräten neue Bewegungsmöglichkeiten. Das Überraschende an dem Einsatz solcher Requisiten ist, dass sie einerseits einschränkend wirken, andererseits aber ungeahnte Bewegungsräume erschließen und auf diese Weise das Vokabular des klassischen Balletts defigurieren, um es in eine neue Sprache zu überführen. Die Kostüme, die mit ihren knappen Bandagen mit dünnen Streifen hautfarbenen Stoffes auch in „Deep Throat“ eine gute Figur gemacht hätten, verbergen fast nichts: Sie präsentieren jeden einzelnen Körper sowohl in der Perfektion als auch in der Unvollkommenheit seiner Bewegungen. Zwei Tänzerinnen, die mit jeweils einem Bein aneinander gefesselt sind, ein Duell zweier Männer zwischen zwei Barren, zu kurze Krücken, lange Gummistränge zwischen Spitzenschuhen und Händen, Spitzenschuhe an den Händen, Krücken an Stirn, Mund, Brust und Armen: eindrucksvolle Momente, die im ersten Teil jedoch Gefahr laufen, wie - der Vergleich mag hinken - in einem Sushi-Restaurant vorbeifahrende Häppchen einer nach dem anderen abgespult zu werden.

Zeitlich besser strukturiert sind einige Sequenzen im zweiten Teil: Die Tänzerin, die scheinbar am Kreuz hängt und der eine Fußwaschung zuteil wird, oder das ergreifende, ebenfalls mit Krücken erlittene Solo der ausdrucksstarken Carol Prieur, die sich viel Zeit lässt und den Zuschauer tief berührt. Einen humorvollen Kontrast bildet später das Solo von David Rancourd zu einer Klangcollage aus Goldberg-Variationen und der Stimme einer Tänzerin, die durch ein Mikrofon im Mund mitsingt (vielleicht in Anspielung auf Gould, der sein Klavierspiel oft selbst mit seinem Gebrumme verzierte): Auf die Sekunde genau interpretiert Rancourd jede Nuance der Musik.

Abgesehen von einigen dramaturgischen Schwächen gelingt es der Choreografin, eine ständige Spannung zwischen dem idealen und dem gehandicapten Körper zu erzeugen. Das Premierenpublikum zeigt sich begeistert, als am Ende Stöcke, Krücken und Rollhocker in der Luft hängen und Carol Prieur dem Bühnenraum entschwebt.


Links: www.tanzimaugust.de / www.mariechouinard.com

 

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