Ein Ballettabend wie eine Achterbahnfahrt

Hans van Manen und ein Geniestreich Martin Schläpfers im XVIII. Programm von ballettmainz

oe
Mainz, 31/05/2005

Ganz schön mutig, was Martin Schläpfer sich in seinem 18. Mainzer Programm vorgenommen hat! An Helmut Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ (1978/80) hat sich bisher noch kein anderer Choreograf gewagt – und überhaupt sind ja tänzerische Anverwandlungen seiner Stücke an den Fingern einer Hand abzuzählen. Zu sperrig, zu widerborstig, zu publikumsverstörend klingen seine Arbeiten.

Nicht so für Mainzer Ohren offenbar. Behutsam hat Schläpfer sein Publikum in den sechs Jahren seiner dortigen Aktivitäten auch in die Off-Limits Regionen der zeitgenössischen Musik geleitet – hat sie mit den Augen hören gelehrt. Und so feiern sie auch in der dritten Vorstellung die Uraufführung seiner „Tanzsuite“ mit ungebremstem Enthusiasmus. Da hätten die Leute andernorts wohl bei dieser Noise-Musik türenknallend den Zuschauerraum verlassen. Denn von den angekündigten deutschen Volksliedern ist keines mehr unter den aus Lautsprechern auf einen eindringenden Attacken mehr zu erkennen – so gründlich hat Lachenmann sie geschreddert ...

Wenn der Komponist in seinem Titel ausdrücklich das Deutschlandlied nennt, dann kann damit wohl nur dessen Atomisierung gemeint sein. Und genau das ist der Ansatzpunkt für Schläpfers Choreografie, die ein Pandämonium heutiger deutscher (nur deutscher?) Befindlichkeiten heraufbeschwört – vierzig Minuten, von Keso Dekker mit der Hilfe des Video-Visagisten Christoph Schödel in einen geradezu sinnverwirrenden Rausch der Farben und gestörten Fernsehbilder verquirlt.

Es ist eine vollkommen aus den Fugen geratene Welt, die Schläpfer in atemberaubender Geschwindigkeit Revue passieren lässt. Dass dazu auch die Welt des Balletts gehört, versteht sich von selbst – wenn auch dessen Reste im Gegensatz zu den Liedern nostalgisch verklärt fragmentarisch zitiert werden (das gilt besonders für Balanchines „Apollo“). Tatsächlich gelingt Schläpfer durch seine geradezu genial vielgestaltige Choreografie die Komposition Lachenmanns nachträglich zu musikalisieren. Man traut seinen Augen nicht, wie Schläpfer aus diesem Chaos der Klänge einen geradezu musikalischen Kosmos entstehen lässt, der am Schluss sogar den zu seiner Einsamkeit im Weltall verurteilten Menschen betrauert.

Wie die Mainzer Tänzer diese Choreografie zu dieser Art von Musik meistern, ist nicht zu fassen, denn hier gibt es nichts, woran sie sich halten können, keine melodiös sich aussingenden Phrasen, keine Adrenalin-gedopten Rhythmen. Aber sie visualisieren diese Musik wahrlich wie Balanchine die Musik Bachs oder Strawinskys gestaltverwandelt als Choreografie auferstehen lässt. Schläpfer als ein später Nachkomme des Ovid. Es ist ein Wunder! Hätte ich nicht gewusst, dass Schläpfer die Choreografie zu dieser Musik kreiert hat, ich hätte wohl eher auf Paul Taylor als ihren Choreografen getippt.

Eingebettet wird die „Tanzsuite“ von Hans van Manens für Deutschland erstaufgeführtes Tänzer-Sextett „Monologue, Dialogue“ und die „Große Fuge“ – längst zu Klassikern des modernen Balletts geadelt, von den Mainzern, inzwischen ausgepichte Van-Manen-Spezis, zelebriert, als hätten sie gerade einen Meisterkurs bei den Holländern absolviert. Und so schieden die Mainzer nach der Achterbahnfahrt dieses XVIII. Programms in der Gewissheit, dass das Ballett auch heute noch als verlässlicher Anker im Totalzusammenbruch unserer Weltordnung fungiert – oder doch zumindest fungieren kann!

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