Simon Keenlyside und Trisha Brown mit Schuberts „Winterreise“

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Luzern, 12/09/2003

Der Abend im „Lucerne 2003 Festival“ fungiert als Musiktheater und bildet den zweiten Teil des „Wanderer-Zyklus“ (der erste, mit Matthias Gorne, widmete sich rein konzertant der „Schönen Müllerin“). Die New Yorker Produktion vom Dezember letzten Jahres im Rahmen des Lincoln Center „New Visions“-Festivals hatte dort geradezu sagenhaft enthusiastische Kritiken bekommen (unter anderem von Kisselgoff, Jowitt und Grescovich) wie auch schon zuvor die reinen Tanzproduktionen von Trisha Brown mit Bachs „Musikalischem Opfer“ und Monteverdis „Orfeo“, die dann bei ihrem Europa-Debüt eine sehr zwiespältige Aufnahme gefunden haben. Luzern sah jetzt das Europa-Debüt der „Winterreise“ – weitere Vorstellungen sind in London geplant.

Schade, dass diese „Winterreise“ nicht auch in Deutschland zu sehen ist. Denn hier hätte sie sich dem Vergleich mit Daniela Kurz und John Neumeier stellen müssen, die beide wesentlich zeitbezogenere Interpretationen des berühmten Schubertschen Liederzyklus präsentiert haben – schon durch die Benutzung der Zenderschen instrumentalen Bearbeitung, während sich Brown auf die traditionelle Version für Solostimme und Klavier stützt – mit Pedja Muzijvicz als Begleiter am Flügel auf der Bühne, der gar nicht erst versucht, seinen Part orchestral aufzublähen, sondern das Klavier sozusagen als Gen dieses Zyklus entdeckt und behandelt – und damit auch seine eminenten Vorgänger hinter sich lässt – ich denke an Michael Raucheisen, Gerald Moore und Swjatoslaw Richter.

Und das gilt auch von Simon Keenlyside, diesem jungen englischen Bariton, der sich mit seiner ungeheuer subtil und sensibel nuancierten Interpretation (in makellosem Deutsch) eingereiht hat in die Phalanx der größten Sänger des vorigen Jahrhunderts à la Karl Erb, Hans Hotter und Dietrich Fischer-Dieskau. Wenn man die Augen geschlossen hätte, hätte man einen der erinnerungsträchtigsten Liederabende des jungen Jahrhunderts erlebt. Aber das hätte man sich auch hinterher keineswegs gewünscht – hin und her gerissen zwischen der Keenlysideschen Interpretation und dem, was sich Trisha Brown als choreografisches Akkompagnement für Keenlyside und drei Tänzer ihrer Gruppe dazu hat einfallen lassen – samt ihrer Light-Designerin Jennifer Tipton.

Nicht, dass sie darum bemüht gewesen wäre, die Texte Wilhelm Müllers zu illustrieren! Sie abstrahiert sie gewissermaßen – und tut das außerordentlich dezent – und immer hoch musikalisch. Aber sie akkompagniert sie eben – statt sie frei zu ornamentieren. Und sie hat sich sozusagen als Gen der ganzen „Winterreise“ eine Arm-Figuration der vier Beteiligten ausgedacht, die gleichsam als Zwölf-Arm-Motiv ihrer achtstimmigen Choreografie fungiert (und das dann doch ausgesprochen lächerlich etwa in den Armfigurationen des „Lindenbaums“ und der „Krähe“). Und bei den „Träumen“ und beim Blick ins Grab scheut sie dann auch nicht vor direkten pantomimischen Assoziationen zurück.

Nein, den Qualitätsvergleich im Hinblick auf das Tanztheater kann Trisha Browns „Winterreise“ nicht bestehen, sie bleibt ganz der Ästhetik und Praxis des Modern Dance verhaftet. So engagiert auch Keenlyside seinen Part an der Seite der Tänzer agiert, er bleibt der junge romantische Wanderer, dem nicht mehr zu helfen ist – im Gegensatz zu Kurz und Neumeier, die beide Schuberts Wanderer als Zeitgenossen unserer Jahrhundertwende reklamieren. Einem Sänger vom Format Keenlysides hätte man einen Choreografen wie Daniela Kurz oder John Neumeier gewünscht.

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