„The Winter’s Tale“ von Christopher Wheeldon. Tanz: Ida Praetorius, Felix Paquet

„The Winter’s Tale“ von Christopher Wheeldon. Tanz: Ida Praetorius, Felix Paquet

Großes Kino

Christopher Wheeldons „The Winter’s Tale” beim Hamburg Ballett

Ein farbenfrohes Märchen mit zeitloser Thematik gab dem Ballett der Hansestadt die Chance, mit Aplomb und großer Tanzeslust die diesjährigen Ballett-Tage zu eröffnen.

Hamburg, 21/06/2022

Es will schon etwas heißen, wenn ein Tänzer und Choreograf in jungen Jahren weltweit mit Lob und Ehren überhäuft wird. Christopher Wheeldon, geb. 1973, gewann bereits 1991 als Tänzer die Goldmedaille beim renommierten Prix de Lausanne. Vom Royal Ballet in London, wo er ausgebildet wurde, wechselte er zwei Jahre später zum New York City Ballet. Dort avancierte er 1998 zum Solisten. 1997 begann er zu choreografieren und wurde rasch zum Shooting Star. Von 2001 bis 2008 war er ständiger Choreograf beim New York City Ballet, darüber hinaus arbeitete er mit dem San Francisco Ballet, dem Bolschoi Ballett und mit dem Royal Ballet London, dem er 2011 mit „Alice’s Adventures in Wonderland“ das erste neue abendfüllende Werk seit 20 Jahren bescherte und dem er als stellvertretender Künstlerischer Leiter bis heute angehört. 2013 bekam er den Prix Benois de la Danse, den „Oscar“ der Ballettwelt, für die beste Choreografie (mit „Cinderella“ beim Niederländischen Nationalballett), und 2015 sofort noch einmal die gleiche Auszeichnung für „The Winter’s Tale“, seine Adaptation des gleichnamigen Shakespeare-Epos, das er 2014 für das Royal Ballet anlässlich des 450. Geburtstages des Dichters geschaffen hatte und das sogleich vom wählerischen Bolschoi-Theater ins Repertoire übernommen wurde. Im selben Jahr erhielt er auch den begehrten Tony Award für seine Choreografie des Musicals „An American in Paris”, das am Broadway, in Paris, London und Australien aufgeführt wurde, und ebenso den Times Arts Award, den Outer Critics Circle Award und den Broadwayworld.co.uk Award als bester Direktor. Und erst vor wenigen Tagen heimste Wheeldon erneut den Tony Award für die beste Choreografie ein, dieses Mal für „MJ the Musical“, eine Reminiszenz an Michael Jackson.

Auch John Neumeier hatte schon früh das Talent des jungen Mannes entdeckt und ihn 2001 um eine Kreation gebeten – „VIII.“ hieß das kurze Stück, und Wheeldon selbst betrachtet Neumeier heute noch als seinen Mentor, der seine künstlerische Entwicklung maßgeblich beeinflusst hat. Kein Wunder also, dass Neumeier, der selbst eine ganze Reihe von Shakespeare-Werken in Tanz umgesetzt hat, ihn jetzt mit „The Winter’s Tale“ nach Hamburg holen wollte. Ursprünglich sollte das Opus schon 2020 gezeigt werden – da machte Corona allerdings einen Strich durch die Rechnung. 2021 wurde es aus den gleichen Gründen nichts – zum Glück muss man heute sagen, denn damals wäre es undenkbar gewesen, ein großes Orchester im Graben zu versammeln, und das braucht es nun mal für eine so facettenreiche Auftragskomposition, wie sie der zeitgenössische britische Komponist Joby Talbot – wie schon bei „Alice im Wunderland“ – eigens dafür schuf. Mit Musik vom Band wäre die Wirkung des Stückes nicht annähernd so intensiv gewesen wie jetzt live aus dem Graben und – in kleiner Besetzung – auch auf der Bühne.

Man muss all das wissen, um dieses Werk richtig einschätzen zu können, seine Vielschichtigkeit, seine Raffinessen, seine Hintergründe. Man darf sich nicht zu sehr an den Äußerlichkeiten festhalten – zu unglaubwürdig ist da so manches in der Story, aber so sind Märchen nun einmal. Nicht alles ist begründet, nicht alles ist logisch, und auch mit den geografischen Gegebenheiten darf man es nicht so genau nehmen (eine Küste wird man in Böhmen zum Beispiel lange suchen müssen ...). Es ist vielleicht gerade das Cineastische, was diese Inszenierung ausmacht, die so ganz anders ist als das, was man sonst in der Hamburgischen Staatsoper beim Ballett zu sehen bekommt. Wheeldon zeigt einfach großes Kino live auf der Bühne – mit allem, was dazugehört, auch dem Risiko, ins Kitschige abzugleiten, und ebenso mit dem gut versteckten britischen Humor. Und so seltsam gestrig manches am Bühnenbild von Bob Crowley anmuten mag – die wehenden Prospekte mit dem darauf projizierten Segelschiff in schwerer See, die monumentalen Mauern des sizilianischen Palastes, die allzu spitz gezackten Felsen, die sich vor die tobende See schieben – so brandaktuell ist der Kern der eher trivial anmutenden nunmehr 411 Jahre alten Geschichte, die einige zeitlos gültige Botschaften enthält: Der sizilianische und der böhmische König, Leontes und Polixenes, sind von Kind an gute Freunde, und als Polixenes gerade wieder mal zu Besuch ist, tanzt er mit Leontes‘ hochschwangerer Gattin Hermione einen recht erotisch aufgeladenen Tanz. Das treibt Leontes in einen regelrechten Eifersuchtswahn, und er wirft Hermione ins Gefängnis, wo sie ihre Tochter Perdita zur Welt bringt. Leontes weist das Baby zurück, aber sein Erster Hofmeister rettet es über die stürmisch aufgewühlte See nach Böhmen und setzt es dort aus, während sein Schiff im Sturm zerschellt und er selbst von einem Bären getötet wird. Ein Schäfer findet das Kind und die ihm mitgegebenen Kostbarkeiten, darunter eine Kette mit einem großen Smaragd, die Leontes dereinst Hermione geschenkt hatte. Herangewachsen verliebt sich Perdita in Florizel, den Sohn von Polixenes, der sich allerdings als Schafhirte ausgibt und das unkomplizierte dörfliche Leben mit seinen Festen liebt. Als Polixenes entdeckt, dass sich sein Sprössling mit einer nicht Standesgemäßen eingelassen hat, verurteilt er Perdita und ihre Zieheltern zum Tod. Aber das junge Paar kann sich noch rechtzeitig auf ein Schiff retten und flieht nach Sizilien. Dort kommt es dann zum großen Happy-End: Polixenes, der die Flüchtenden verfolgt, und ebenso Leontes erkennen anhand der Smaragdkette, dass Perdita die verloren geglaubte Prinzessin ist, und so darf sie Florizel natürlich heiraten. Zum guten Schluss wird auch die tot geglaubte Hermione wieder lebendig – ihre Erste Hofdame Polina hat sie 16 Jahre lang versteckt. Leontes erkennt in tiefer Reue seinen großen Fehler und versöhnt sich mit der Gattin.

„Es ist ein Schauspiel voll hochdramatischer Situationen, die sich für eine physische Umsetzung anbieten“, erklärte Christopher Wheeldon selbst bei einer öffentlichen Probe beim Royal Ballet seine Entscheidung für diesen Stoff. „Was mich angezogen hat, war der Gegensatz zwischen der Finsternis von Sizilien und der überschäumenden Lebensfreude des Schäferfestes in Böhmen. Es ist eine Geschichte, die gewalttätig beginnt und mit einer poetischen Erlösung endet.“ Und in einem Interview für das Jahrbuch des Hamburg Ballett sagt er weiter: „Das Publikum wird ‚The Winter’s Tale‘ als eine Geschichte über Vergebung und Verwandlung erleben. Eine Erzählung, die letztlich unter Beweis stellt, wozu wir alle in der Lage sind: zu Grausamkeit und zu Erbarmen, zu Schattierungen aus Licht und Dunkelheit, die in uns allen existieren. Dieser innere Widerspruch mag nützlich sein in herausfordernden Zeiten wie diesen.“

Christopher Wheeldon arbeitet diesen inneren Kern in drei Akten mit einer abwechslungsreichen Choreografie heraus, die dem Hamburg Ballett die Gelegenheit bieten, all seine Tanzkunst zu entfalten – auf ganz andere Weise, als man das vom Chefchoreografen und Ballett-Intendanten John Neumeier gewohnt ist. Die Solist*innen werfen sich ebenso wie das gesamte Ensemble mit Aplomb und begeisterter Hingabe in das Geschehen. Allen voran Madoka Sugai und Sasha Trusch als Perdita und Florizel, die die Szenerie mit ihrer selbstverständlichen Präsenz und tänzerischen Präzision ordentlich aufmischen, während Ida Praetorius als Hermione und Jacopo Belussi als Polixenes eher verhalten agieren. Felix Paquet verleiht dem Leontes eine gewisse diabolische Schärfe, der eine abgrundtiefe Verzweiflung und schließlich die beglückte Erlösung folgt. Aleix Martinez als Schäfersohn darf zusammen mit Yaiza Coll als Schäferin endlich mal seine ganze Bewegungsvirtuosität zeigen. Und das gesamte Ensemble blüht regelrecht auf bei den tempogeladenen Tänzen der Schäferinnen und Schäfer, die Wheeldon zu beeindruckenden Tableaus geformt hat. Herausragend auch Silvia Azzoni, die endlich wieder einmal auf der Bühne zu sehen ist, in der Rolle der Ersten Hofdame Paulina – ihr Part bildet den roten Faden in der Erzählung, sie verbindet die verschiedenen Charaktere mit einer ganz eigenen Bescheidenheit und Würde, wenn sie das Kind und seine Mutter rettet, über den an sich selbst schier verzweifelnden Leontes wacht und schließlich den Smaragd am Hals der jungen Perdita entdeckt und damit das Happy End einläutet.

David Briskin, Musikdirektor und Chefdirigent des National Ballet of Canada, dirigierte schon die Uraufführung in London und kam jetzt eigens nach Hamburg, um das Philharmonische Staatsorchester mit sicherer Hand durch die schwierige Partitur zu führen.

Es bleibt abzuwarten, wie dieses theatralische Werk mit seiner doch recht deutlich am britischen Geschmack orientierten Ausstattung künftig beim Hamburger Publikum ankommen wird. Die Premierenbesucher*innen feierten alle Beteiligten erstmal mit großer Begeisterung, wobei die Vorstellung – was selten vorkommt bei einer Ballettpremiere, gerade zu Beginn der Ballett-Tage – nicht ausverkauft war.

 

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