Jochen Schmidt zu Gast im koeglerjournal

Zum 30. Geburtstag des Cloud Gate Dance Theatre: ein neues Stück von Lin Hwai-min

Stuttgart, 23/09/2003

Es ist mir eine Ehre und eine große Freude, einen so geschätzten Kollegen wie den vom FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher so schmählich und völlig unbegründet gefeuerten Jochen Schmidt zu einem Gastkommentar im koeglerjournal einzuladen – sozusagen zu einem „Sahnehäubchen“ auf meine eigenen Beiträge. Es ist eine Einladung, die ich in Zukunft auch – gelegentlich, bei besonderen Anlässen – an andere, von mir geschätzte Kollegen aussprechen möchte. Hier also ist, zur Eröffnung, Jochen Schmidts hochaktueller Bericht über seine jüngste Reise nach Taiwan und die neueste Kreation von Lin Hwai-min.
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_____ 1970 erhielt der taiwanische Ministersohn Lin Hwai-min ein Literatur-Stipendium für die USA. Zwei Jahre später kam er, so langhaarig, dass ihn die Polizei auf der Straße aufgriff und die Haare zwangsweise scheren ließ, als Tänzer von der University of Iowa und aus den Studios von Martha Graham und Merce Cunningham in New York zurück. Ein weiteres Jahr später gründete der 26-Jährige, mit Geld, das ihm Geschäftsfreunde seines Vaters geliehen hatten, eine Tanzkompanie, die er nach einem 6000 Jahre alten chinesischen Tanz benannte: Cloud Gate (zu Deutsch: Wolkentor). Seitdem schreibt das Ensemble dank des choreografischen Genies seines Gründers und Leiters eine einmalige Erfolgsgeschichte. Wenn die Kompanie, einmal im Jahr, eine für jedermann offene Freiluft-Vorstellung auf dem Platz des Chiang-Kai-Chek-Memorials gibt, verfolgen bis zu 80 000 Zuschauer die auf eine riesige Video-Wand übertragene Aufführung.

Im Herbst 1981 kam Cloud Gate zum ersten Mal nach Europa. Mittlerweile machen seine weltweiten Tourneen Pina Bauschs Tanztheater Wuppertal Konkurrenz. Im Frühjahr 2003 gastierte die Kompanie in Singapur, Korea, Deutschland, Frankreich, Norwegen und den USA. Der Herbst sieht das Ensemble in Australien, China, Brasilien und noch einmal den Vereinigten Staaten. Die Sommermonate aber waren für die Feier des 30. Geburtstags im eigenen Land reserviert. Lins „Legacy“, 1978 choreografiert, galt jahrelang als Markenzeichen des Ensembles. In grandiosen Bildern feiert das Stück die Kolonialisierung der Insel Formosa durch chinesische Einwanderer. Nun hat Lin das jung gebliebene Werk mit der dritten Tänzergeneration rekonstruiert. Es gab abenteuerliche Voraufführungen in der taiwanischen Provinz, ehe das Stück zurück in die Hauptstadt kam.

Bei einer Freiluft-Aufführung in der Nähe des kleinen Ortes Puli geriet das Ensemble in einen Taifun. Doch 20 000 Zuschauer in gelben Regenumhängen trotzten dem Wetter und sahen die Aufführung, spontan gekürzt lediglich um einige der technisch schwierigsten Passagen, tapfer bis zum Ende.
Vor zwei Jahren schuf Lin Hwai-min die Choreografie „Cursive“: das Hohelied der chinesischen Kunst der Kalligrafie, eine Übersetzung der Energie der großen chinesischen Schriftmeister in die andere Energie des Tanzes, vor allem mit den Mitteln des Tai-Chi. Nach einem Zwischenschritt mit „Smoke“ im vergangenen Jahr nahm der Choreograf das für ihn unerschöpfte Thema wieder auf.

Kalligrafien werden mit breitem Pinsel und mit Tusche geschrieben (oder gemalt). Dabei unterscheiden die Kenner fünf verschiedene Schattierungen der schwarzen Farbe. „Cursive“ befasste sich vor allem mit den tiefschwarzen Tönen und projizierte, relativ dramatisch, berühmte Beispiele älterer Kalligrafien hinter und neben die Tanzenden. „Cursive II“, das neue Stück, befasst sich vor allem mit den lichteren Farbschattierungen dieser Malerei und verzichtet völlig darauf, die Cloud-Gate-Tänzer mit kalligrafischen Kunstwerken zu konfrontieren. Der Choreograf malt selbst, mit den Körpern der Tanzenden. Das heißt nicht, dass es in „Cursive II“ – für dessen Bühnenbild Austin Wang und für dessen Beleuchtung Lin Kehhua nach einem Konzept von Chang Tsan-Tao verantwortlich zeichnen, während Lin Jing-ru die Kostüme schuf: weiße weite Hosen für die zwölf Tänzerinnen, lange schwarze Röcke für die zehn Männer – gar keine Projektionen gäbe. Doch benutzen diese Projektionen keine Kalligrafien, sondern vergrößerte Detailfotos jener kostbaren, eierschalen-weißen Porzellane, die in der Sung-Zeit (ab 900) entstanden sind.

Für „Cursive“ hatte sich Lin eine neue Musik komponieren lassen. Für „Cursive II“ benutzt er Kompositionen von John Cage vorwiegend aus den frühen neunziger Jahren. Anders als etwa Merce Cunningham hört er in die Musik hinein und sucht für sie choreografische Entsprechungen. Es sind durchweg sehr asketische, nicht unmelodiöse Kompositionen aus Cages „asiatischer Phase“, zum Teil für tibetische Instrumente, mit reichlich Stille zwischen den musikalischen Aktionen. Sie lassen den Tanz atmen und bereiten ihm ein Klima der Kontemplation, in dem sich die Choreografie in aller Ruhe entfalten kann. Die direkt ineinander übergehenden zehn Sätze der Choreografie – eine Abfolge von Frauen-Quartett und Männer-Sextett, Ensemble-Sätzen und Duett, zwei Soli, die ein weiteres Ensemble umschließen, einem weiteren Trio und einem großen Finale für die komplette Gruppe – arbeiten wiederum vor allem mit den Bewegungen des Tai-Chi; doch anders, lyrischer als in „Cursive“. Das neue Stück ist reine Poesie. In ziemlich genau 70 Minuten ohne Pause definiert Lin Hwai-min mit „Cursive II“ den Begriff choreografischer Schönheit neu.

Er benutzt dazu eine sehr chinesische Zeichensprache, die den westlichen Betrachter gleichwohl niemals fremd anmutet. Denn eine gewisse innere Verwandtschaft mit dem klassischen „weißen“ Ballett ist durchaus vorhanden: von „Schwanensee“ oder „Les Sylphides“ über Balanchine und Robbins bis zu Merce Cunningham oder Hans van Manen, dessen „Großer Fuge“ sich einige der Männerensembles in der Stimmung, wenn auch kaum in der sich schraubenden und verwindenden Bewegungserfindung annähern.

Qualitativ bewegt sich „Cursive II“ durchgehend auf einem Niveau, wie es in der abgelaufenen Saison wohl nur Lin Hwai-min selbst mit seinem „Smoke“ vom November 2002 erreicht hat. Doch während „Smoke“ die „westlichste“ Choreografie ist, die Lin je geschaffen hat, darf „Cursive II“ - trotz seiner Erinnerung an westliche Ballett-Traditionen – als die chinesischste seiner choreografischen Arbeiten gelten: ein Kunstwerk, das, ohne dass es sich hermetisch abschlösse gegen den Betrachter, in sich ruht im festen Wissen um die eigene Einbettung in eine Jahrhunderte alte Kultur.
Autor: Jochen Schmidt ________

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