„Nach Moskau“

von Stephan Thoss

oe
Hannover, 04/01/2002

Freitagabend, im gut gefüllten Opernhaus die fünfte Vorstellung von Stephan Thoss´ erster Kreation als neuer Ballettchef in Hannover – das Publikum offenbar sehr angetan von dem Zweiteiler „Nach Moskau“ – in Anspielung auf Tschechows „Drei Schwestern“, die sich nach nichts so sehr sehnen wie herauszukommen aus ihrer provinziellen Abgeschiedenheit – von Thoss halbironisch gemeint, aber eben nur halb. Im ersten Teil „Russland Bilder / Das Filmstudio“, ausgewählte Einzelsätze von Schostakowitsch – der zweite Teil dann Schostakowitschs komplette zehnte Sinfonie (Neumeier hatte jüngst seinem „Nijinsky“ dessen elfte Sinfonie zugrunde gelegt). Der Abend hat ein außergewöhnlich hohes musikalisches Niveau – zu verdanken nicht zuletzt dem gut aufgelegten Staatsorchester Hannover und den solistischen Mitwirkenden unter der animierenden Leitung von Markus Frank. Die musikalische Stimmigkeit von Musik, Thematik und Choreografie ist bestechend – und heute ja leider die Ausnahme.

Der Filmstudio-Bezug des ersten Teils ist eher äußerlich, dient lediglich der raschen Aneinanderreihung der einzelnen Szenen – tänzerische Shortcuts à la Russe. Es beginnt mit einem opulenten Walzerarrangement mit Tolstoi- („Krieg und Frieden“) und Puschkin-(Duell) Referenz. Dann geht‘s im Rösselsprung durch die russische Geschichte: Sowjettristesse, Petruschka-Koloristik, mussorgskyhafte Mystery-Stimmung („Chowanschtschina“), als Höhepunkt der Gottesnarr (wieder die Reminiszenz an Mussorgsky, „Bilder einer Ausstellung“ und „Boris Godunow“ – fulminant: Zoran Markovich), Ungewissheit, Warten – aber niemand scheint zu wissen, worauf. Das ist alles prägnant und plakativ in Szene gesetzt.

Psychotrips in die unergründlichen Tiefen der russischen Seele – aber in was für einem Stil? Schwer zu sagen, jedenfalls völlig eigen – abrupte, groteske, auch marionettenhafte Knickbewegungen – ich denke an Palucca, Patricio Bunster, Folkwangjooss, sowjetischer Kriegerdenkmalsrealismus, DDR-Nostalgie, Putinoptimismus... Sehr vital jedenfalls und höchst ungewohnt für die Tänzer, die sich selbstverleugnerisch bravourös in die ungewohnten Schrittkombinationen stürzen. Ich habe so etwas jedenfalls noch nicht gesehen, bin sehr beeindruckt und weiß nicht recht, was ich davon zu halten habe. Was mir außerordentlich gefällt, ist Thoss' Musikalität, die meine Aufmerksamkeit immer wieder auf Schostakowitschs fabelhaft kontrastreiche Stücke lenkt.

Aber so richtig klar bin ich mir auch nach „Sinfonie Nr. 10 e-moll op. 93“ nicht, deren ausweglose Trauer mich allerdings zutiefst packt: Schostakowitsch at his best! Thoss nennt die vier Sätze, für mich nicht nachvollziehbar, „Gestern. Er. Ich. Morgen“. Es ist ein Ballett für die ganze Kompanie (zweimal vierzehn Tänzer), halb abstrakt, ausgesprochen stimmungssuggestiv, mit viel erwartungsvollen, gen Himmel gerichteten Blicken – warten auf einen russischen Godot-Messias? Vielleicht. Das Ganze ist jedenfalls sehr mystisch. Der erste exzeptionell lange Satz (25 Minuten) mit viel Leerlauf, der zweite, sehr kurze (laut Schostakowitsch mit Stalin-Bezug), aus einer einzigen Bewegung der mit dem Rücken zum Publikum postierten Kompanie entwickelt – wie einer nach dem anderen zu Boden gleitet. Der dritte und vierte Satz dann an Spannung gewinnend – wieder in jenem Thoss-Mixstil, der jedenfalls auf unserer Ballettbühne ohne Vergleich ist.

Ich lasse meiner Fantasie freien Lauf, denke an die vielen aufregenden Yvonne Georgi-Abende im Hannover der fünfziger und sechziger Jahre zurück (mit den fantastischen Partys hinterher in Herrenhausen, die immer einen Schuss Pariser Chique in unsere triste Nachkriegsrealität brachten) und könnte mir vorstellen, dass Thoss, der ja unverkennbar vom deutschen Ausdruckstanz (oder dessen Palucca-Variante als Neuer Künstlerischer Tanz) herkommt, hier vielleicht unbewusst eine Hommage an die frühe Yvonne Georgi (1926-31 Ballettchefin in Hannover) vor ihrer Konversion zur Neoklassikerin choreografiert hat. Zweifellos ein Gewinn für unsere Tanzszene, jedenfalls sehr belebend und originell. Ein Weg in die Zukunft – oder doch eher eine Sackgasse: „Last Exit Hannover“?

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