Eine gewisse Trollhaftigkeit

Jo Strømgrens Nürnberger „Una furtiva lagrima“

Nürnberg, 13/04/2002

Da sieht man wieder einmal, wie weit ein Choreograf durch seine eigene Kreativität vom anfänglichen Kurs abgetrieben werden kann: Der Norweger Jo Strømgren, eine der herausragenden Persönlichkeiten des skandinavischen Tanzes, sollte für das Nürnberger Ballett unter dem Titel „Una furtiva lagrima“ eine Neufassung seines abendfüllenden Tanzstücks „Bindingsverk“ erarbeiten, das er vor vier Jahren für die Nye Carte Blanche Company im norwegischen Bergen geschaffen hatte. Strømgren war bereits sehr erfolgreich an dem Gemeinschaftsprojekt „Winterreise“ der Nürnberger Ballettdirektorin Daniela Kurz beteiligt, das mit dem renommierten Bayerischen Theaterpreis ausgezeichnet wurde.

Aber was zunächst als „Beziehungs-Weisen mit Donizetti“ angekündigt war, mit Live-Musik einer italienischen Banda, zu der eine aus der Emigration in ihre Heimatstadt zurückkehrende Frau mit ihren Erinnerungen konfrontiert wird, das hat nun nichts mehr mit dem italienischen Komponisten zu tun. Die Musik von Jørgen Knudsen, eine Collage aus elektronischen Geräuschen und von Norbert Gabla (Bandoneon), Markus Rießbeck (Saxophon) und Norbert Meyer-Venus (Kontrabass) auf der Bühne gespielten Klezmer-Stücken, zitiert zwar zuweilen die berühmte Arie aus der Oper „Der Liebestrank“ – die einmal von dem jungen Tänzer Luca Marazia in bester Gondoliere-Manier in den Saal geschmettert wird – aber sie ist zum dramaturgisch bedeutungslosen Erinnerungsfetzen reduziert worden.

Die ursprünglich fünf Hauptrollen, von Jessica Billeter, Dagmar Bock, Ivo Bärtsch, Philip Bergmann und Mikko Jairi hinreißend gespielt, sind in Nürnberg um neun weitere Tänzer ergänzt worden. Sie geben dem Choreografen die Möglichkeit, das Rasen der Bilder in einem Gehirn besser zu illustrieren. Die sich erinnernde Frau erscheint nie auf der Bühne. Sie ist nur in ihrer Jugend, vermutlich als Kind, als ihre Mutter zu sehen, umgeben und im Kampf mit ihrem Freund, Mann und Liebhabern, mit denen allesamt sie kein Glück hatte, so sehr sie sich auch als Partnerin, Beischläferin und Seelsorgerin andiente. Die Nachtmahre der Vergangenheit sind allgegenwärtig. Nur für einen kurzen Augenblick, ganz am Ende, flackert eine zärtliche Episode mit Bock und Bärtsch.

In Stefan Østensens Fachwerkhaus, das zugleich innen und außen ist – im Norwegischen bedeutet „Bindingsverk“ sowohl Fachwerk als auch Bindungen – erleben wir ein albtraumhaftes, intensives Gespinst aus seelischer und körperlicher Qual, unerfüllten Sehnsüchten, Hurerei und Kriegsängsten. Das ist eher Bewegungstheater als purer Tanz. Strømgrens rüde Choreografie deklamiert heftig mit den Armen, lässt stürzen, rast buchstäblich über Tische und Bänke, ist kaum je fließend oder gar partnerschaftlich. Dennoch ist sie von jener gewissen Trollhaftigkeit bestimmt, die skandinavischen Tanzstücken so oft eine emotionale Zutraulichkeit verleiht.

Ein unerhört dichtes, düsteres und pessimistisches Werk, das von der immer persönlichkeitsstärker werdenden Nürnberger Truppe mit bewundernswürdiger Selbstentäußerung exekutiert wird. Dennoch ist es kein ganz großer Wurf. Denn Strømgren findet nur selten zu einer ausgewogenen Amplitude zwischen Erregung und Ruhe, auch nach der Pause, die an beinahe jeder Stelle hätte eingefügt werden können, ist keine Veränderung des Bühnengeschehens zu erkennen. Gut zwei Stunden deprimierender Hochspannung sind nicht der Theaterweisheit letzter Schluss.

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