„Mass“ von Richard Siegal

Tanz ums Goldene Kalb

Richard Siegals Choreografie zu „Mass“ in Gelsenkirchen

Das spartenübergreifende Theaterhappening „Mass“ zur Komposition von Leonard Bernstein am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen.

Gelsenkirchen, 07/10/2018

Richard Siegal für die Inszenierung und Choreografie von Leonard Bernsteins monumentaler Musiktheaterkomposition „Mass“ für Sänger*innen, Schauspieler*innen und Tänzer*innen zu engagieren, kann nur auf den ersten Blick erstaunen. Bei näherem Hinsehen ist er die ideale Wahl für dieses „Happening“ am mutigen Musiktheater im Revier zum Gedenken an den 100. Geburtstag des amerikanischen Komponisten der „West Side Story“. Seit der Entstehung sind fast 50 Jahre vergangen. 1971 uraufgeführt, zur Eröffnung des John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington D.C., im Auftrag der Witwe des ermordeten Präsidenten, erweist es der Freundschaft der beiden weltberühmten Charismatiker aus Politik und Musik Reverenz.

Ein großer Wurf im umfangreichen Oeuvre des vielseitigen jüdischen Künstlers ist diese Hommage an den kunstsinnigen, bekennenden Katholiken leider nicht geworden. Zu sehr verhaftet und bezogen auf den Entstehungsanlass wirkt heute die fast zweistündige Komposition. Zu viele philosophische Aspekte will sie in der Person der Hauptfigur vereinen. Der die Messe zelebrierende Priester trägt deutlich selbstreflektierende Züge des Komponisten. Andererseits bezieht sich die üppige Besetzung mit gesprochenen Passagen inmitten langer, gesungener Monologe und Chöre, der gewaltige instrumentale Apparat und die Aufmärsche von Massen, konterkariert von Tänzer*innen-Eskapaden, auf den Zweck des neuen Kunsttempels: Galt es doch 1971, die „Weihe“ eines Hauses für alle darstellenden Künste zu feiern (weshalb auch eine der 32 Nummern explizit einem entsprechenden Beethoven-Thema gewidmet ist).

Eindeutig hat sich Bernstein selbst überfordert. Eigene Lebens- und Glaubensfragen bündelt er entlang des Ritus der katholischen Messe – von Kyrie bis Agnus Dei – in der Gestalt des „Celebranten“. Dantes göttliche Komödie war darüber hinaus Vorlage für die Textcollage aus den lateinischen Versen und englischen Reflexionen. Ein kurzes, hebräisches Zitat (Kadosh … = Heilig, heilig, heilig) bezieht die jüdische Religion ein. Stilistisch mischt der Komponist Klassik, Pop, Jazz und Gospel. Musikalisch auf dem Niveau seiner „West Side Sory“ etwa (und mit deutlichen Anleihen bei Orffs „Carmina Burana“) sind nur der letzte Teil des „Gloria“, das „Sanctus“ und schließlich die Bitte um Frieden. Da „outet“ sich der Pazifist Bernstein am deutlichsten, der sich – damals – vehement gegen den Vietnamkrieg aussprach.

Dass sich nun das Musiktheater im Revier – trotz der durchaus umstrittenen Rezeptionsgeschichte – an eine Neueinstudierung wagt, erstaunt fast gar nicht. Denn es wird ja unter Michael Schulz dem traditionellen Ruf des mutigen David in der deutschen Musiktheaterlandschaft gerecht. Auch die Zusammenarbeit mit dem Ballett ist hier längst selbstverständlich. Der seit Langem in Deutschland beheimatete Richard Siegal ignoriert in seinem Regiekonzept weitgehend die Chronologie der Messe und bedient stattdessen die andere Bedeutung des englischen Titels: Masse (Mensch) statt (katholische) Messe – als Tanz der Masse Mensch um das Goldene Kalb, das Erlösung aus Not und Reichtum für jedermann verspricht. Da tritt ein Laienprediger auf, der den Massen ewiges Heil verspricht. Alle strahlen ihn an, glauben ihm und erheben ihn – der selbst von Glaubenszweifeln geplagt wird – zu ihrem Heilsbringer. Sie umtanzen ihn wie die Israeliten das Goldene Kalb – bis er stürzt. Zurück bleibt die Bitte um Frieden – vorgetragen zuerst von einem Knaben. Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Natürlich sprengt eine Inszenierung mit 180 Mitwirkenden die Dimensionen des relativ kleinen Bühnenraums. Aber das Musiktheater im Revier wird hier symbolisch zur übervölkerten Erde. Bühnenbildner und Lichtdesigner Stefan Mayer schafft, ganz im Sinn von Bernstein, mit seinen modernen Kiefernholz-Aufbauten elegant Raum für alle: Bläser*innen, Gitarrist*innen und Pianist sitzen an der Bühnenrampe rechts und links über dem Orchestergraben. Chorist*innen singen von Emporen. Zum Schluss steht dort auch die Flötistin, die anfangs ganz links in der Pultreihe auf der Bühne spielte. Gesangssolist*innen und der „Streetchorus“ sitzen in der ersten Reihe des Parketts. Den Hymnus der Friedensbitte singen auch manche Zuschauende von den verteilten Notenblättern mit. Alle rücken zusammen. Generalmusikdirektor Rasmus Baumann hält mit bewundernswerter Souveränität die musikalischen Fäden in der Hand.

Siegal schafft großzügige, einleuchtend praktikable Gruppenauftritte und Bewegungsmuster. Der Theaterchor tritt aus den Kulissen auf, singt von den Emporen – strömt von überall her und hat wunderbare Solist*innen für kleine Szenen im Beichtstuhl, als Zweifler*innen, hoffende Anhänger*innen des Wanderpredigers. Der Knabenchor der Akademie Dortmund repräsentiert rührend natürlich und klangrein die Zukunft. Die Blechbläser marschieren durch Seitentüren des Zuschauerraums auf und verbreiten Oktoberfeststimmung. Das Ballett im Revier hopst fröhlich durch die Masse Mensch, die sich zum Widerstand gegen überkommene kirchliche Heilsversprechen versammelt.

Startänzer Paul Calderone, der auch mindestens so gut singt wie die solistisch eingesetzten Chorist*innen, ist schwarz gewandet und soll wohl so eine Art Diabolo abgeben. Als einziger Tänzer darf er sich in einer kurzen, sehr düster ausgeleuchteten Sequenz auf dem Boden wälzen. Alle anderen folgen langweiligen Gesellschaftstanzpaarungen oder Aerobic-Gehüpfe und poppiger Klassik der 1970er Jahre; zitieren mitunter gar in kleinen Zweiersequenzen Alvin Ailey. Der Afroamerikaner lieferte bei der Uraufführung die Choreografie – Signal für Toleranz in den Künsten. Jetzt wären Streetdancer aus dem Revier dran gewesen – natürlich vom Verein Pottporus. Bei allem Respekt für das Ballett im Revier und Bridget Breiners Arbeit: Hier war der Spagat des Musiktheaters im Revier zur freien Szene der Region gefragt – der Mut also heute hier wie damals das Engagement des Afroamerikaners dort. Mehr Mut zu Streetdance aus dem Revier fehlt diesem spartenübergreifenden Theater-Happening.

 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern