„Hänsel und Gretel“ von Simone Maier

Metamorphosen

Vierteiliger Abend „Märchenhaft“ am Theater Görlitz

Eigentlich ist ein vergifteter Apfel nur Beiwerk. Worum es wirklich in Märchen gehen kann, zeigen vier ganz verschiedene Arbeiten.

Görlitz, 20/10/2025

Bei der Auseinandersetzung mit „klassischen“ Märchen besteht generell die Gefahr, auf Klischees und Stereotypen auszurutschen. Es kann zur Herausforderung werden, den Kern der zu Allgemeingültigkeit vereinfachten Geschichten mit Sichtweisen des Hier und Jetzt in Verbindung zu bringen. Nicht nur, dass das tatsächlich allen vier Arbeiten des Abends „Märchenhaft“ am Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz gelingt. Auch dramaturgisch ist der mit gerade mal einer Stunde Länge erstaunlich kurze Abend trotz vier verschiedener Handschriften schlüssig.

Wie ein Prolog steht „Ominous“ am Anfang. Rigoberto Fernandez Saura reißt hier mit unglaublicher Energie gefühlt fast die Wände des kleinen Saals im Apollo ein. Er hat die Bühne in einer Fläche von sechs mal sechs Metern mit weißem Klebeband begrenzt und quetscht dorthinein sechs Tänzer*innen, die ihr Bestes geben, nicht „aus dem Rahmen zu fallen“. Der choreografische Ansatz macht genau das aber fast unmöglich. In schwarzen Hosen und ebensolchen Hoodies sind bei spärlichem Licht nur mal ein paar Gesichter auszumachen, oder ein paar Hände. 

Saura schlägt hier das Bilderbuch einer ungebändigten Welt auf, die, eben wie es in Märchen so zugeht, keine Grenzen des Denkbaren zu kennen scheint. Da liest man die berühmte Geste des Bisses in einen (vergifteten?) Apfel. Da werden Metamorphosen sichtbar; die Grenze zwischen Mensch und Tier löst sich auf. Das ist wild, mit enormer Energie aufgeladen und holt so ziemlich alles aus den sechs Tänzer*innen raus. Das ist bewegungstechnisch anspruchsvoll, fast schon ins Artistische gehend. Damit bereitet „Ominous“ den Boden für die folgenden Variationen bekannter Stoffe.

Entwicklungen und Veränderungen

Massimo Gerardi lässt in „Red“ Rotkäppchen (mit roter Beanie: Filippo Nannuci) in einem entspannt sensiblen Duo auf einen alles andere als gefährlichen Wolf (Jun Wang) treffen. Der zerreißt nach kurzer Zeit seine eigene Maske und legt damit ein „anderes Wesen“ frei. In „Cinderella“ befragt Yuri Hamamo in einem Trio das Für und Wider von Regeln und was es bedeuten kann, sich ihnen freiwillig zu unterwerfen. Denn auch Freiheit muss ertragen werden können. 

Der gläserne Schuh, er ist hier ein Strick, der Cinderella (Ruri Wakiyama) an ein zwar glamouröses, aber starres Leben bindet. Mit „Hänsel und Gretel“ schließlich befragt Simone Maier die Möglichkeiten der Entwicklung im Miteinander und findet dafür ein konstruktives Schlussbild. Obwohl die beiden Kinder, vom Vater verlassen, auf sich selbst gestellt sind und den Kampf mit der Hexe aufnehmen müssen, sind am Ende alle vier zu einer Einheit aufgestellt und kämpfen sich gemeinsam mit Boxbewegungen voran. 

In jedem Fall sind es Entwicklungen, Veränderungen in den einzelnen Figuren, die die Welt zu einem anderen Ort machen. Grundlage dafür sind Reflexionen über das eigene Sein und Wollen. Und kommunikative Offenheit. Damit schafft es der Abend tatsächlich, auch ein sehr junges Publikum anzusprechen.

 

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