Unterwegs: Realität und Metapher
Helge Letonjas „Nomada“ in Bremen
Von Rainer Beßling
Offenbart die Anfangsszene schon das ganze Dilemma? Eine Gruppe kommt auf die Bühne, langsam, in parallelen Bewegungen, ein sanftes Wiegen, ein Miteinander. Da schert jemand aus, geht auf eine andere Person am Boden zu. Die Ankommende bettet deren Kopf in ihren Schoß. Die Gruppe zieht vorbei, die Individuen sind auf sich zurückgeworfen, müssen sich behaupten und bedürfen der anderen.
Mit der neuen Produktion „Skin Deep“ widmet sich das Bremer Ensemble „Of Curious Nature“ einem großen Sujet. Aber ist die Kunstform Tanz nicht prädestiniert, die Haut als tiefe Oberfläche zu erfühlen und zu erkunden? Zugleich muss ein solch weites und tiefes Thema gerahmt und formal bewältigt werden, ohne dass Schranken eingezogen oder Korsetts geschnürt werden. Das gelingt den Choreografen Tú Hoàng und Helge Letonja auf unterschiedliche und grandiose Weise. Sie geben den Tänzerinnen und Tänzern Gelegenheit, ihr breites tänzerisches und darstellerisches Spektrum stilgenau und nuancenreich zu demonstrieren.
Hoàng verankert sein Stück „A Thousand Steps to Silence“ an Kontrasten. Sequenzen mit Bildern und Bewegungssprache aus dem Buddhismus stehen körperlichen Ausbrüchen zur Kulisse treibender Club-Klänge gegenüber. Das Ensemble agiert formbewusst und frei zugleich, macht sich strömende Leiblichkeit in fließenden Gruppenszenen und Figurenstrenge im Unisono-Ritual erkennbar. Bei sich sein, ankommen, das bedarf der Kontemplation und Konzentration. Takt, Rhythmus, Wiederholung, Steigerung, Vertiefung - so vollzieht sich formal gebändigt eine emotional aufgeladene Motorik. Die Musik lässt eine Mechanik als organischen Puls spüren, der ganze Raum füllt sich mit Körperlichkeit und Klang. Meditation und Martial Arts spielen zusammen.
Hautgeschichten
Letonja setzt in seiner Choreografie auf eine sinnliche und hochsensible Durcharbeitung einzelner Sequenzen. Dies führt zu einem intensiven Erlebnis, das den Blick auf den Körper und seine Hülle ins Zentrum rückt. So tauchen einzelne Bilder auf, die Episoden von Begegnungen von Annäherungen, Zugewandtheit, Ausweichen und Rückzug andeuten. Harte Schnitte, Hautgeschichten als Häutungen des Zueinanders und Miteinanders. Zufällige Zusammentreffen lassen die Akteure staunend zurückschrecken, dann doch den Weg zu den anderen suchen, um sich im Hin und Her zwischen dem du und ich einzupendeln. Die Schönheit der Körper nimmt mit dem Erstreben von Nähe zu, ihre Strahlkraft wächst mit dem wechselseitigen Einverständnis; suchende, tastende, ankommende und sich lösende Hände - das Begehren und das Berühren versetzen die Körper in Bewegung und halten sie in einer kunstvoll natürlichen Balance, nicht ohne eine Begleitspur der Störung und Gefährdung mitspielen zu lassen.
Oft werden Bewegungsbilder zu Körperskulpturen, die eine andere Form von Dynamik zum Ausdruck bringen. Die phasenweise Stille der Körper ist beredt. Das Streben, Verharren, Zaudern, das Unerlöste - ein ganzer Kosmos des Körperlebens zeigt sich. Eine innerlich bebende Versammlung, die das Statuarische fließen lässt. Der Moment wird durchbrochen von einem Lichtspalt einer sich öffnenden Tür durch die sich eine Tänzerin zwängt. Weitere Körper stürzen in den Raum, bewegen sich getrieben horizontal über den Boden, wenden sich voneinander ab. Im sich steigernden Stroboskop-Licht (Licht: Carlos Heydt) scheinen sie zu fliegen. Die anfangs fast nackten Körper sind nun bekleidet, nur Einer versucht mit bloßer Haut vergeblich Kontakt aufzunehmen. Letonja führt die Tänzer*innen seines Ensembles in der Komposition von Miguel Marin zu Hochform in Dynamik, Interpretation und Aufmerksamkeit und zeigt das Potenzial dieses Ensembles.
Nähe und Distanz
In der letzten Sequenz des Abends agieren die Tanzenden fast nackt. Doch sie bedecken ihr Geschlecht. Ist damit Scham ins Spiel gebracht? Ein Empfinden, das schon länger nicht mehr hochgeachtet und mit Prüderie verwechselt wird. Die letzten Bilder repräsentieren die stillen Stellen voller Zwischentöne, die dem Stück eine keinesfalls schwere Tiefe verleihen.
Seit der Pandemie wissen wir um das Dilemma von Distanz und Nähe. Unter dem Regime der digitalen Medien kennen wir die Ablösung der Haut als Membran durch die Displays als Schnittstelle. Tragen wir unsere Haut eigentlich nur noch als tote Hülle, während wir uns Bildfluten einverleiben? Ermattung statt Erfahrung. Das Visuelle hat das Taktile abgelöst. Wir klicken und wischen, exekutieren roboterhaft das Streicheln und Umarmen nach medialen Blaupausen. „Skin Deep“ erweist sich als ein Stück zu unserer Zeit, das Haut und Körper zu Projektionsflächen und symbolischen Bezirken für Gegenwartsphänomene macht. Sollten wir unsere Hüllen nicht in unsere Haut verwandeln?
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Bitte anmelden um Kommentare zu schreiben