„Wunderkammer“ von Marco Morau am Staatsballett Berlin: Ensemble 

Düster bedrohliche Wunderkammer

Marco Moraus große Uraufführung von „Wunderkammer“ am Staatsballett Berlin

Ein tiefgehender Abend, der noch lange in einem nachwirkt. Auch in seiner neuesten Kreation beweist Marco Morau, dass er sein Handwerk beherrscht und aktuell zurecht zu einem der begehrtesten Choreografen Europas zählt.

Berlin, 02/11/2025

Einsam steht ein Tänzer mit einem kaputten Akkordeon, das nur mehr wenige Töne von sich gibt, auf der dunklen Bühne. Ein langsam größer werdender Lichtkegel beleuchtet ihn schräg von hinten oben. Erst nach einiger Zeit kommen mehr Tänzer*innen dazu. Beobachten ihn und beginnen ihn zu umrunden. Kreis und Linie als geometrisch-choreografisches Element werden an diesem Abend noch oft zu sehen sein. Der Akkordeonspieler wird in die Gruppe aufgenommen. Allgemein werden Individuen in dieser düster bedrohlichen Wunderkammer ungern gesehen und mit starrem Blick beobachtet. Die Gruppe als Einheit steht im Mittelpunkt und verändert sich stetig. Das zeigt sich vor allem in den androgynen Kostümen von Silvia Delagneau. Zu Beginn tragen die 29 Tänzer*innen hautfarbene Langarm-Trikots, die mit Wörtern und Grafiken bedruckt sind, sodass sie den Eindruck von Tätowierungen erwecken. Dazu nur schwarze Socken mit Sockenhalten und schwarze Schuhe mit weißen Gamaschen. Einige tragen schwarze Harnesse oder Korsetts. Erotisch-frivol sehen sie aus, wie den ausschweifenden Varietés der 1920er-Jahre entsprungen. Dieser Eindruck wird durch die Frisuren – manche erinnern an Liza Minelli als Sally Bowles im Film „Cabaret" – verstärkt.

Erst mit der Zeit fällt auf, dass sich in die Kostüme immer mehr die Farbe Schwarz mischt und die Tänzer*innen am Ende in schwarzen Hosen und hochgeschlossenen langärmeligen Oberteilen vor einem stehen. Der Frivolität wird Einhalt geboten. Ein starkes Bild für die 1930er-Jahre aber auch für die gesellschaftspolitischen Veränderungen im Europa unserer Zeit. Ein Thema, mit dem sich auch Constanze Macras in ihrer aktuellen Arbeit „Goodbye Berlin“, welche gerade an der Volksbühne Berlin Premiere hatte, beschäftigt. 

Phantasieanregend

Moraus choreografische Handschrift ist sehr divers: anfangs wird viel gegangen und gestampft. Glieder strecken sich in alle Richtungen und ziehen sich wieder zusammen. Einige Momente wirken, als ob die Tänzer*innen wie Marionetten aufgehängt wären. Einzelne Bewegungen setzen sich in der Gruppe fort bevor wieder die Synchronität im Vordergrund steht. Manches Mal erkennt man auch klassische Bewegungen oder wird an die Flügelschläge aus „Schwanensee“ erinnert. Morau erweitert mit seinem Bühnenbildner Max Glaenzel die Bühne über den Orchestergraben bis zum Publikum. Ganz nah kommen die Tänzer*innen an die erste Reihe, versuchen die Brüstung des Orchestergrabens zu überwinden. Als sie sich wieder auf die Bühne zurückziehen, steht dort eine lange Ballettstange vor einem Zerrspiegel. Aus individuellen Bewegungen an dieser Stange wird auch hier wieder rasch eine Einheit in der Gruppe hergestellt. 

Später werden die Tänzer*innen auch noch auf einer stufenförmigen Pyramide arrangiert oder auf ein langes Sofa gesetzt. Es entstehen Bilder, die viele Assoziationen zulassen und noch länger in einem nachhallen. Erwähnenswert ist die vorletzte Szene: Während die Tänzer*innen die Textzeile „This is not the End“ wiederholt singen, verteilen sie sich im Publikum. Ein riesiger Spiegel schwebt aus den Soffitten und zeigt den kompletten Zuschauerraum. Für kurze Zeit entsteht hier eine Einheit von Darsteller*innen und Publikum, dass den Tänzer*innen eine Sicherheit zu geben scheint. Solange es ein Publikum gibt, haben die Tänzer*innen eine Daseinsberechtigung. 

Clara Aguilar und Ben Meerwein haben einen Sound geschaffen, der zwischen Technoclubatmosphäre und bedrohlicher Filmmusik schwankt, nur selten gibt es sowohl in der Musik als auch in der Choreografie ruhige Momente. Gemeinsam mit dem etwas zu düsteren Lichtdesign von cube.bz entsteht ein Gesamtkunstwerk, das einen 70 Minuten in den Bann zieht. Marcos Morau, seit 2023 Artist in Residence beim Staatsballett Berlin, beweist wieder einmal, dass er große Gruppen in beeindruckenden Bildern inszenieren kann. Diese Bildkompositionen begeistern natürlich, aber nachdem man einige seiner Arbeiten gesehen hat, hofft man, dass seine nächste Kreation für das Staatsballett etwas Neues bringen wird: vielleicht leisere Töne oder mehr individulle Personenführung wie in seinen frei produzierten Stücken mit La Veronal und nicht nur große Blockbuster-Momente. Am Ende viel Applaus für Morau und das herausragende Ensemble, dem das Stück sichtlich Spaß macht.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern