„LP“ von Benze C. Werner mit Ley Ghafouri und Guests 

Lust und Ekel

„LP“ von Benze C. Werner mit Ley Ghafouri und Guests im tanzhaus nrw

Eine „Rudelerfahrung“, die das Publikum im Ganzen verschlingt. Konzert, Performance und Archiv – eine Aufforderung, zuzuhören oder gemeinsam laut zu sein.

Düsseldorf, 09/11/2025

Von Vanessa Melde

Zungenartige, textile Installationen und Perlenvorhänge hängen als glitzernde Spuckefäden von den Wänden. Gedämpftes Licht vertieft den Raum. Das Bühnenbild von Diane Esnault kreiert die Illusion einer Höhle – einer Mundhöhle, verrät das Programmheft. Der Mund als Tor zum fremden Körper ist zentrales Motiv von „LP“.

Zungen werden versteckt, hinter vorgehaltener Hand gezeigt und dann auf das Publikum geworfen. Die Choreografie überrascht. Hechelnd lassen die Performer*innen die Zungen hängen. Dann wird die Zunge Sinnbild für die Stimmen derer, die in den Texten zu Wort kommen. Die Tänzer*innen bewegen sich immer wieder in Spiralen. Sie drehen sich um sich selbst und durch den Raum. Sie tragen einander, drehen sich weiter, verdrehen ihre Körper und schwingen in Kreisen zu Boden. Der Sog ihrer Bewegungen wirkt nach, und die Choreografie lässt Luft, ihn wirken zu lassen. Auf laute, abschreckende Rufe und flirrendes Licht folgen Ruhemomente und sanfte Bewegungen. Publikum und Performer*innen scheinen gemeinsam zu atmen. „LP“ ist eine vielstimmige Collage aus persönlichen Geschichten und kollektiven Erinnerungen.

Inspiriert von Essays, Liebesbriefen und anderen Materialien aus den Lesbian Herstory Archives, einem Archiv in New York, das sich der Bewahrung lesbischer Geschichte widmet, verwebt Benze C. Werner Texte, Tanz und Gesang zu einem vielschichtigen, sinnlichen Erfahrungsraum. Ley Ghafouri komponiert dazu eine Soundscape, die in die Knochen geht.

Spiel zwischen Distanz und Nähe

Bühnenraum und Publikum sind auf Augenhöhe, da gibt es keine Abgrenzung. Außerdem ist „LP“ eine Relaxed Performance. Das bedeutet, dass die Verhaltenscodes einer Theatervorstellung aufgehoben sind: Der Raum kann jederzeit verlassen oder ein anderer Platz gewählt werden. Für die Zuschauer*innen verbindet sich damit aber auch, Entscheidungen treffen zu müssen: Zugreifen, wenn etwas gereicht wird? Ausweichen oder einer Beinahe-Berührung standhalten? Choreograf*in Werner kreiert Ambivalenz zwischen angesprochen werden und nicht angesprochen werden. Im nonverbalen Dialog werden stetig Distanz und Nähe ausgehandelt. Unsicher, was passieren wird, muss das Publikum den Performer*innen vertrauen – intensive Intimität entsteht.

Intensiv sind auch die Texte, die Songs und die Stimmung. „Hoffentlich bellen sie mir nicht direkt ins Gesicht“, denke ich unsicher. Die Performer*innen sind auf allen Vieren, hecheln, legen die Hüfte ab, wenden den Kopf, hecheln weiter. Schwarze Caps tief ins Gesicht gezogen, verbergen ihre Augen. Ihre Bewegungen sind nah genug am tierischen Vorbild, dass meine Muskeln sich anspannen. Wo gehen sie als nächstes hin? Werden sie bellen? Doch dann singen sie.

Gänsehautschauer jagen über die Arme, als Benze C. Werner „Lips of an orchide“ performt, während Elin Tezel im Song „Hide inside“ die Verzweiflung aller herauszuschreien scheint. Wenn dann anstelle eines Cis-Mannes queere Performer*innen „Forget about your boyfriend and meet me at the hotel room“ singen, das Zitat stammt aus dem Song „Hotel Room Service“ von Pitbull, groovt der ganze Raum mit.

 

 

Bewegungsmelder – Nachwuchswerkstatt für Tanzjournalismus aus NRW

Dieser Text entstand im Rahmen des Projekts „Bewegungsmelder – Nachwuchswerkstatt für Tanzjournalismus aus NRW“, einer Kooperation von tanznetz mit dem Masterstudiengang Tanzwissenschaft des Zentrums für Zeitgenössischen Tanz (ZZT) an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und dem nrw landesbuero tanz.

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