Feiner Beobachter des Lebens
Fulminanter Neustart des Balletts Basel unter Marco Goecke
Krönender Abschluss des Jubiläums 15 Jahre Bayerisches Junior Ballett München im Prinzregententheater
Es ist ein seltenes Ereignis, das Bayerische Junior Ballett München bei einem eigenen Heimspiel zu erwischen und daher umso kostbarer: Zumeist erlebt man die jungen Tänzer*innen gemeinsam mit den Kolleg*innen des Bayerischen Staatsballett in dessen Großproduktionen im Nationaltheater, bei Bosl-Matineen oder außerhalb der bayerischen Landeshauptstadt auf einer der zahlreichen Tourneen im In- und Ausland. Der aktuelle Premierenabend im Prinzregententheater darf als besonderer Höhepunkt und Abschluss der sich dem Ende zuneigenden Spielzeit gelten, in der ein Jahr lang das Jubiläum 15-jähriges Bestehen des Ensembles zelebriert wurde.
Abschied und Willkommen
Ein wehmütiger Abschied bedeutet der Tanzabend insofern, als dass diese über zwei Jahre hinweg zur Lebensgemeinschaft herangewachsene Truppe junger Tanztalente in wenigen Wochen nie mehr in dieser Konstellation gemeinsam auftreten wird, sondern ihre Engagements weltweit antreten – man wird sie vermissen. Auch vom zweiten Teil des Abends, bei dem das ikonische Schlüsselwerk „Das Triadische Ballett“ Oskar Schlemmers aus dem Jahr 1922 gezeigt wurde, heißt es auf unbestimmte Zeit Abschiednehmen. Mit wohl keinem anderen Stück ist das Ensemble in seiner Geschichte so intensiv verbunden gewesen und hat es seit 2014 über solch‘ einen langen Zeitraum in verschiedenen Erdteilen erfolgreich getanzt. Nun kehren die Kostüme – Herzstück des Balletts – und Lebenswerk des einstigen Bauhaus-Künstlers ins Archiv der Akademie der Künste Berlin zurück.
Ein Willkommen und Korkenknall stellt der erste Teil mit der Uraufführung „Devil’s Kitchen“ von Marco Goecke dar. Den Ausnahmechoreografen und designierten Chef des Ballett Basel verbindet eine intensive Beziehung mit München: Hier hat er nicht nur selbst als Student der Musikhochschule München einst seine Tanzausbildung absolviert, sondern den Kracher „All Long Dem Day“ bereits 2023 den Münchner Junior*innen anvertraut. Sein aktuelles Werk stellt die erste originäre Neukreation für die Company dar, die er gemeinsam mit dem Ensemble erarbeitet und errungen hat.
Bewegungen im Zeitraffer
Während das zeitlose Faszinosum vom „Triadischen Ballett“ in der Auflösung alles Individuellen zugunsten der Abstraktion des Menschlichen in den Schlemmer-Kostümen zu finden ist, erliegt man bei „Devil’s Kitchen“ – im Gegensatz dazu – der Qualität, dass dieses Stück so ganz die unverkennbare Handschrift Marco Goeckes trägt, bei der man sich an seiner geradezu singulären Bewegungssprache weidet. Andererseits besticht dieses Werk mit der individuellen Präsenz der 15 Tänzer*innen, die hier als Ko-Autor*innen dieses neuesten Wurfs fungieren. Das sieht – und vor allem – fühlt man. Goecke gilt als ein Meister hochartifizieller Bewegungssprache, die in ihrer fragmentarischen Präzision und messerscharfen Genauigkeit aller Körperteile besticht. Bei „Devil’s Kitchen“ – ein Werk, das laut Choreograf keiner Handlung oder spezifischen Idee folgt, wozu auch? – beeindruckt die emotionale Wucht, die sich von jedem einzelnen Interpreten unmittelbar auf das Publikum überträgt. Wie Pfeile schießen die Tänzer*innen schemenhaft aus dem Bühnenhintergrund hervor, um die schwarzgraue Bühne dann mit sofortiger Präsenz voll für sich einzunehmen. Individuen auf der Suche nach einander und sich selbst – umschmeichelt vom reduziert-sexy Kostümbild Susanne Stehles und Klängen Pink Floyds.
Hinreißende Soli und Duette entspinnen sich in Sekundenschnelle – gleich einem Daumenkino sind es nur einzelne Bilder, die sich in größtmöglicher Exaktheit zu einem ganzheitlichen Eindruck zusammenschweißen. Headbangs (hinreißend virtuos Lars Philipp Gramlich) folgen auf groteske Slapstick-Einlagen (Parker Gamble) und kristallklare Pas de deux – beispielhaft Robyn Hodges und Arturo Lizana García. Hüften werden nach vorne geschoben, Hände mutieren zu schraubenden Propellern, marionettenhaft bewegen die Tänzer*innen ihr Gegenüber gleich Aufziehpuppen – sie selbst agieren als unbewegte Beweger. Attituden und Battements fliegen scheinbar ohne Kraftanstrengung durch den Raum, imaginäre Objekte werden mit millimeterpassgenauen Bewegungen zerhackt, stumme Schreie und Elektroschocks ins Universum geschleudert! Eine Energie und Wucht, die sich im Zeitraffer unter die Haut graben!
Nach dem erfolgreichen Dauerbrenner „All Long Dem Day“ waren die Erwartungen an die Neukreation beim Bayerischen Junior Ballett München zweifellos hochgeschraubt, doch Marco Goecke ist auch diesmal ein Bravourstück geglückt, das in Erstaunen versetzt. Doch jede*r Choreograf*in ist bekanntlich nur so gut wie seine Tänzer*innen – wie fantastisch, denkt man sich an diesem Premierenabend, sind diese jungen Nachwuchstalente vor allem selbst! Welch‘ ein Geschenk ist es, sie mit all ihrer Hingabe, ihrem Elan und ihrer potenzierten Virtuosität erleben zu dürfen – bitte auf ein baldiges Wiedersehen!
Ein gut geschriebener Text, zweifellos, und das Lob ist gerechtfertigt. Die Autorin hat allerdings einen Beitrag zum Programmheft der Aufführung verfasst und einen weiteren für die Jubiläumspublikation des BJBM. Da würde ich mir doch von der tanznetz-Redaktion wünschen, dass mehr auf journalistische Unabhängigkeit geachtet wird.
Liebe Leser*in,
Danke für den Kommentar und den Hinweis. Unsere Autorin Anna Beke war selbst sehr überrascht den 3 Jahre alten Beitrag im Programmheft zu finden. Auch der Jubiläumsbeitrag ist ein Jahr alt und nicht anlässlich dieser Premiere geschrieben (soweit ich weiß). Wir achten generell darauf, dass nicht dieselbe Person fürs Programmheft schreibt und rezensiert. Eine gewisse Nähe allerdings lässt sich in dieser kleinen Szene nicht immer vermeiden, wenn man die Menschen mit der größten Expertise für eine Besprechung sucht. Wir bemühen uns weiterhin um Unabhängigkeit und Qualität und freuen uns über so eine aufmerksame Leserschaft. Herzliche Grüße, Nina Hümpel
Marco Goeckes neueste Choreografie, die bis kurz vor der Premiere keinen Namen hatte, ist "natürlich" wieder ein echter Goecke geworden. Also mit allem, was seine Tanzsprache so völlig unverwechselbar macht. Auffallend fand ich aber, dass es trotz der Kürze von nicht mal einer halben Stunde gegen Ende zu ein bisschen "lang" wirkte, als könnten sich all die nervös-flattrigen Zeichen in der Wiederholung dann doch bald erschöpfen. Vielleicht wird das seine größte Herausforderung in der Zukunft sein: sich selbst treu zu bleiben, ohne sich irgendwann "nur noch" zu wiederholen. Kann sein, dass es da dann doch hilfreich sein wird, wieder Geschichten zu erzählen – "Devil's Kitchen" setzt allein auf die Faszination Tanz, die Goecke auch wie wenig andere auf die Bühne zu bringen vermag. Oder sich mindestens ein Thema jenseits des Artifiziellen zu setzen – ich denke da beispielsweise an Mats Eks grandioses "Apartment".
basierend auf den Schlüsselwörtern
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