Werden alle zu halten sein?
Alessandra Ferri hat das Wiener Tanz-Niveau blitzartig in die Höhe geschraubt
Jugendkompanie der Ballettakademie, Elio Gervasi, Georg Blaschke & Matthias Kranebitter
Im Oktober ist die Stadt immer noch voller Tourist*innen und ihre Kulturangebote laufen auf Hochtouren. Künstlerischer Tanz schlägt kurz in Boulevardpostillen auf, wenn es um Ungewohntes geht. Das ist etwa bei dem in Wien lebenden Performer Luca Bonamore der Fall, der zurzeit im Volkstheater einen Engel in der Komödie „The Boys Are Kissing“ spielt. Oder die fotogene Alessandra Ferri, die neue Chefin des Staatsballetts, die nun ihre erste Premiere mit der Jugendkompanie der Ballettakademie im Stadtzentrum vorstellte.
Zum Start: Ein imaginiertes Walzer-Jubiläum in 2225
Für die sehr kleine Bühne im sogenannten NEST, der Neuen Staatsoper im Künstlerhaus, wenige Gehminuten vom Haupthaus, hatte Robert Binet, der künstlerische Leiter des Fall For Dance North-Festivals in Toronto, eine vierteilige Choreografie erstellt. Mit den zwölf, gut vorbereiteten Tänzer*innen der Jugendkompanie der Ballettakademie, die nunmehr von Patrick Armand und Ferri geleitet wird, sollte ein Beitrag zum von der Stadt Wien geförderten Johann Strauss-Jahr entstehen: „Dances for the Future“ für ein imaginiertes Walzer-Jubiläum 2225. Und „worldwide“ beauftragte Zutaten von vier Wortspender*innen und vier Komponist*innen sollten das Neue anlegen: darunter Themen wie Blindheit, soziale Gerechtigkeit, Klima. Wichtige Themen, die Texte allerdings, die unter nest.at nachlesbar sind, sind weit entfernt von Tanzlibretti. Gleichwohl hatte es bei der Premiere so geklungen (v. a. Streichquartett, ein wenig Elektronik mit Anklängen an den Jubilar) und ausgesehen, als hätte jemand die vielen gewünschten Stimmen zur milchigen Melange gegossen. In verunglückt wirkenden Ganzkörperhäuten sind die Nachwuchstänzer*innen angeleitet, klassische Allüre aus dem Lehrbuch zu zelebrieren. Es wirkt, als ob Binet dabei dramatische Momente aus Erzählballetten des 19. Jahrhunderts verquickt mit Abschnitten, in denen klassische Tanztechnik thematisiert wird. Eine persönliche Sprache bleibt da aus, wie sich auch kaum Inhaltlichkeit vermittelt. Trotzdem wird die ausführliche Vorstellungsserie dem Ensemble reichlich Erfahrung bringen.
Auf den Spuren von Merce Cunningham
Wer will, der erreicht zu Fuß vom NEST das atmosphärisch unüberbietbare Theater Odeon im zweiten Gemeindebezirk. Nicht das hauseigene Serapionstheater präsentiert sich, sondern der seit vielen Jahren unermüdlich in unterschiedlichsten Konstellationen tätige Choreograf Elio Gervasi, der mit dem afroamerikanischen Tänzer Bob Curtis in den 1980er Jahren nach Wien kam. Erneut hat es ihm Merce Cunningham angetan, auf dessen Spuren Gervasi mit sieben, famosen Tänzer*innen in dem rund einstündigen Stück „7-X-7 IN C MOLLE“ zur kontrapunktisch anmutenden, treibenden Elektronik von Alessandro Vicard dahingleitet. Abrupte Stopps and Gos wechseln mit klassisch grundierter Tanzsprache, Cluster lösen sich zur Reihe auf. „Erbaut“ wird nicht nur die Dreidimensionalität des Körpers, sondern auch der jeweilige Raumabschnitt durch das Stellen, Setzen und Versetzen von weißen Mauer-Teilen. Post-Cunningham.
Großraumtheater im Gedenkwald
Nur mit U-Bahn oder Auto gelangt man in die Wiener Seestadt Aspern, eines der größten europäischen Stadtentwicklungsprojekte. Mehr als zwei Millionen Menschen zählt die Hauptstadt mittlerweile, ein Drittel davon sind zugezogene Bewohner*innen. Dort „draußen“, in dem seit 1987 gepflanzten Gedenkwald für die 65.000 jüdischen Menschen, die in Wien Opfer der NS-Diktatur wurden, luden der Choreograf Georg Blaschke und der Komponist Matthias Kranebitter mit dem Blackpage Orchestra zum Großraumtheater „Dichtes Holz“. Auf einer Lichtung, dann mitten im Wald tönt es harsch, verstörend, erinnernd, wie von überall. Vier Performer*innen, auffällig in cremefarbenen Anzügen, werden in ihren abstrakten Handlungen zu Projektionsflächen historischen Geschehens. Sie kauern, verbinden sich, legen sich flach, staksen weit in die Ferne. Das Umgehen mit langen Ästen – wie Tragen großer Last – evoziert Momente, die nachwirken.
Da haben zwei gleichermaßen spröde wie feinsinnig Kunstschaffende zueinander gefunden, die ihrem Publikum eine physische und gedankliche Wanderung abverlangen, der sich niemand entziehen kann.
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