„Giselle“ in der Fassung von Elena Tschernischova am Staatsballett Wien: Cassandra Trenary und Ensemble

Brutalität der Jugend

Zum Start von Alessandra Ferri am Staatsballett Wien mit einer dreifachen „Giselle“

Alessandra Ferri startet als Chefin des Wiener Staatsballetts mit der Wiederaufnahme von „Giselle“ in der traditionellen Fassung von Elena Tschernischova. Von ihr hat Ferri einst eben diese Bühnen-Rolle erlernt. Trägt sie die Leidenschaft weiter?

Wien, 25/09/2025

Dass Staatsoperndirektor Bogdan Roščić nach dem selbst gewählten Abschied von Martin Schläpfer ausgerechnet Alessandra Ferri als Ballettdirektorin „aus dem Hut zog“, damit hatte wohl kaum jemand gerechnet. Allerdings ist sie dort bereits die achte Frau in tanzkünstlerischer Pole-Position. Wie immer wurde auch dieses Mal sofort geunkt: „Fantastische Ballerina, aber kann sie einen solchen Job, und wird das nicht langweilig?“ Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Sie will Ballett in all seinen Formen zeigen und Tänzer*innen um sich scharen, die ihre Auftritte leidenschaftlich, durchaus individuell gestalten. Mit Inbrunst. (Bemerkung: Das setzt klarerweise technische Souveränität voraus. Wie schön.)

Zwei wesentliche Kriterien für eine erfolgreiche Leitung eines mehr als 100 Tänzer:innen zählenden, ursächlich klassisch ausgebildeten Ballettkörpers an zwei musiktheatralen Spielstätten scheinen damit erfüllt zu sein. Das akademische Repertoire will anspruchsvoll erweitert, aktualisiert, im besten Fall durch Neukreationen bereichert und vor allem aber wieder auf einem internationalen Niveau präsentiert werden. Ferri ließ viele Tänzer*innen ziehen und brachte, wie es mit einer Neujustierung nach einer kontrovers diskutierten Ära mit äußerst unterschiedlichen Tanzqualitäten nicht anders sein kann, viele Neue aus unterschiedlichen Ensembles mit.

Giselle“ nach Elena Tschernischova

Dass Ferri mit Tschernischovas „Giselle“ (nach Coralli, Perrot u. Petipa; Musik: Adolphe Adam; Friedrich Burgmüller) ihre erste Spielzeit beginnt, ist weniger ein Gedenken an die legendäre „Giselle“-Premiere des Australiers Gordon Hamilton zur Eröffnung der aus dem Kriegs-Schutt wiederaufgebauten Staatsoper 1955. Vielmehr meint sie (im Programmheft-Interview mit Iris Frey), das Meisterwerk „Giselle“ handle von Transformation und Selbstverwandlung, von wahrer, bedingungsloser Liebe. Es folgt sogleich der Schritt der Praktikerin: Aus dem Pas de deux der „Bauern“ wurde ein Pas de quatre. Das ohnedies intensiv beschäftigte Hauptpaar tanzt besser nur das Adagio, so ihre Argumentation, Variationen und Coda führen zwei Bauernpaare aus. Mag in der Theorie verstören, funktioniert aber in der Praxis, zumal dieser Abschnitt „immer schon“ ein künstlich eingelegter war.

Drei Besetzungen waren aufgeboten, Ferri, die selbst Solist*innen coachte und sich Julio Bocca als Gast an ihre Seite holte, sorgte keineswegs für geklonte Interpret*innen. Elegant beförderte sie in ihrer Besetzungspolitik außerdem länger verdiente Kräfte in neue Rollenfächer. Der Einstandsabend mit dem neuen Dirigenten Luciano Di Martino, der während dieser Serie seine Tempi immer besser anpasste, galt der scheu wirkenden, dahinfließenden und durchsichtig anmutenden Elena Bottaro in der Titelrolle. Die Herzschwäche glaubt man der zwischen dem gediegenen Masayu Kimoto als Albrecht und dem beharrlichen, technisch im 2. Akt auftrumpfenden Giorgio Fourés als Hilarion hin- und hergerissenen jungen Frau. Spannung kam mit Rebecca Horners Auftritt als herrschaftlicher Bathilde auf. Nach der Pause widmete sich Ioanna Avraam ganz der stilistischen Unerbittlichkeit der Myrtha.

Rückkehr der Klassizität eines Ensembles und neue Gesichter

Die zweite Vorstellung besuchte Kollege Paul Delavos und meint, dass sie mit einer sehr stimmigen Besetzung bestach: „Die Energie der Solist*innen übertrug sich auf das gesamte Corps de ballet. Cassandra Trenary, diese Saison vom American Ballet Theatre ans Wiener Staatsballett gewechselt, meisterte ihr Hausdebüt als Giselle sowohl technisch perfekt als auch schauspielerisch beeindruckend. Die Wahnsinnszene bescherte einen Gänsehautmoment. Davide Dato als Albrecht ist ihr ein guter Partner. Rinaldo Venuti, neu im Ensemble, zeigte bei seinem Rollendebüt als Hilarion ebenso technisches wie schauspielerisches Können. Neu als Solotänzerin ist auch Rosa Pierro, die sich als sehr unterkühlte Myrtha nicht von Giselles und Albrechts Flehen beeindrucken lässt. Ketevan Papava als Bathilde und Trevor Hayden als Wilfrid, beide langjährige „Wiener*innen“, lassen ihre Rollendebüts nicht so klein erscheinen. In ihren Erstauftritten im Pas de quatre der „Bauern“ sind Natalya Butchko, Gaia Fredianelli, Vladyslav Bosenko, neu im Ensemble, sowie Duccio Tariello technisch sicher und harmonieren gut miteinander.“

Die dritte Besetzung verheißt die Rückkehr der Klassizität eines Ensembles. Vor allem im zweiten, dem weißen Akt fielen eine zuletzt selten gesehene große Ausgeglichenheit und Linearität des Corps de ballets auf, der künstlerische Ausdruck kann da allerdings noch zulegen. Die Wilis-Reihen bildeten den Rahmen für ein spezielles neues Paar im Wiener Haus. Da ist zum einen Laura Fernandez Gromova, Schweizerin mit ukrainisch-spanischen Wurzeln. Wegen des Putin-Angriffskrieges ist sie vom Moskauer Stanislawski-Theater nach Tiflis zu Nina Ananiaschwili weitergezogen. Zum anderen der 22jährige António Casalinho. Der mehrfach ausgezeichnete Portugiese trainierte unter anderen bei Maina Gielgud und wurde vom Bayerischen Staatsballett abengagiert. Gromovas Giselle ist von feinster detailreicher Ausarbeitung und musikalischer Phrasierung. Technik als Ausdruck für glühendes Spiel. Und Casalinho: seriös, proper, auftrittssicher, präzise Technik. Er spielt sein physisches Können dort aus, wo es dramaturgisch Sinn macht, als Gestalter wird er noch wachsen. Viel Potenzial, das Andere mitreißen möge. Von einer talentbezogenen „Brutalität der Jugend“ lässt sich da ruhigen Gewissens sprechen. 

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