„Kosmokörper“ von Elisabete Finger

Skispringen oder Tanzen?

explore dance Festival #6 in München

Dieses Mal ging's um Öffnungsstrategien und Enkulturation, Heimat, Regeln und die Verschmelzung von Körper und Kosmos – und natürlich um Neugier und Nähe.

München, 09/05/2025

In der Turnhalle des Münchner Klenze-Gymnasiums rollen gerade zwei Tänzer*innen einen Teppich aus. Und nein, das wird keine Notunterkunft für von Sparzwängen betroffene Künstler*innen, sondern nur eines der Pop-up-Stücke, mit denen explore danceNetzwerk Tanz für junges Publikum e. V. seit rund sieben Jahren durch Kindergärten und Schulen zieht. 2024 wurde der Zusammenschluss aus HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste Dresden, K3 | Tanzplan Hamburg, fabrik (moves) Potsdam und Fokus Tanz / Tanz und Schule München mit dem Deutschen Tanzpreis für herausragende Entwicklung im Tanz geehrt. 

Bis der Haushalt der neuen Bundesregierung aus den Startlöchern kommt, ist seine anteilige Weiterfinanzierung auf Bundesebene unsicher. Dabei stehen schon zwei neue Netzwerk-Mitglieder in der Warteschlange. Wer das ist, darf derzeit noch nicht an die Öffentlichkeit, der sich das explore dance Festival #6 gerade in München präsentierte: Mit zwei Pop-ups, einer eigenen Bühnenproduktion und einem internationalen Gastspiel für kleinere Kinder ab drei Jahren, für die man sich künftig stärker öffnen will. 

Auf einem Panel mit dem Titel „Räume für alle“ ging es um diese und andere Öffnungsstrategien und unter anderem um die Frage, warum nicht alle Menschen Tanz und Theater genauso cool und lebenswichtig finden wie die hier Versammelten. Die Theaterwissenschaftlerin Katja Meroth hat sich das auch gefragt und im Anschluss ihr empirisches Untersuchungsbesteck gezückt. Ihre Findings: „Enkulturation“, also das allmähliche Hineinwachsen in eine Kultur und ihre Codes, ist nach dem dreißigsten Lebensjahr abgeschlossen. Wer bis dahin nicht von Menschen, die ihm wichtig sind, die Lust auf Kunst vermittelt bekommen hat, bleibt sehr wahrscheinlich zeitlebens außen vor. Auch mit anderen Dingen ist das so. Meroth nimmt das Skispringen als Beispiel: „Das könnte in meinem Wohnzimmer stattfinden und ich würde trotzdem im Schlafzimmer Youtube schauen.“ Also gelte es, früh die Neugier zu wecken, Nähe aufzubauen und künstlerische „Einstiegsdrogen“ zu mixen. 

Rätselhafte Bilder

Eine Arbeit, die das alles auf sich vereint, wurde direkt vor dem Panel gezeigt: „WUW – Wind und Wand“ des phantastischen Münchner Duos Zinada. Bereits am Vormittag war die Potsdamer Produktion „Kosmokörper“ im Theater HochX zu sehen, und mittags kam das Hamburger Stück „Wo der Teppich Staub fängt“ im Klenze-Gymnasium vorbei. Ersteres ein erstaunlich niedrigschwelliges Stück für Jugendliche ab der siebten Klasse. Zweiteres ein anspruchsvoller 40-Minüter für Kinder von sechs Jahren aufwärts, dessen skurrile Figuren und bunte Farbigkeit sicher auch ohne Vorbereitung genossen werden kann, aber wohl kaum verstanden. Ob es allerdings schlimm ist, wenn die über eine große Leinwand flackernden Bilder komplett rätselhaft bleiben? Schwer zu sagen. 

Wer schon einmal einen Blutstropfen durch ein Mikroskop beschaut hat, weiß, wie ein Herz aussieht oder um die Ähnlichkeit zwischen Adern und Zweigen, Brustwarzen und Dornen, Haut und rissiger Erde weiß, ist zwar, was die Zuordnung des Wahrgenommenen angeht, klar im Vorteil, fragt sich aber mitunter auch, durch welchen Körperkanal die Kamera gerade Achterbahn fährt. Der innere und der äußere Kosmos, Mensch, Natur und Technik verschwimmen miteinander. Und das nicht nur in den stark vergrößerten und von abstrakten Farbstreifen durchzogenen Projektionen. Vor ihnen teilen sich Guilherme Morais und Caroline Alves eine kleine Tanzfläche, die sie mit staksigen Schritten und abgezirkelten Bewegungen erkunden. 

Ihre in weißen Laborkitteln steckenden Körper werden von den Projektionen miterfasst und gleichsam vom Bild verschluckt, aber ihre Schatten reißen unübersehbare übermenschengroße Löcher hinein. Als das erstmal passiert und plötzlich ein pulsierendes florales Gebilde direkt aus den Tänzer*innen hervorzusprießen scheint, geht ein lautes „Ah!“ und „Oh!“ durch die gut mit Kindern gefüllten Reihen. Und das, was die beiden da vorne nach dem offenbar recht eigenwilligen Kopf der brasilianischen Choreografin Elisabete Finger machen – sich Gummihandschuhe von den Fingern kauen oder im Schulterstand aus den Hintern qualmen –, ist allemal seltsam genug, um dranzubleiben. Und sind das überhaupt Menschen? Irgendwann zieht Morais zu einem Soundtrack, der direkt aus der Maschinenhalle des Universums zu kommen scheint, Drähte und Kabel aus Alves kollabiertem Körper. 

Erzählung von Verlusten

Viel weniger rätselhaft geht es bei Alexander Varekhine und Laura Kisselmann zu. Die beiden sitzen anfangs auf einem Perserteppich, der in vielen elterlichen Wohnzimmern liegen dürfte, und fahren mit traurigem Blick mit der Hand über den Flor. Aus dem Off hört man ihre Stimmen von Verlusten erzählen, von der geliebten Jeansjacke, die irgendwann nicht mehr passte und von einem „Du“, das einmal so wichtig war, weil es das „Ich“ beschützte. Ein paar Sätze schwappen auch ins Poetische, wie: „Ich war bekannt in diesem Zuhause. Ich kannte niemanden“. Beim Nachgespräch mit den Jugendlichen erzählt Varekhine auf Nachfrage, dass er in seiner Herkunftsfamilie vor allem gehorcht habe und erst lernen musste, nach seinen eigenen Regeln zu leben, während Kisselmann erst vor kurzem in ihre erste eigene Wohnung gezogen ist. 

Und man fragt sich, ob sie sich einen Gefallen damit getan haben, in ihrem Stück nichts davon konkret ins Visier zu nehmen. Denn auch in Richtung Wurzeln, Migration und kulturelle Identität weiten sie das Thema Heimat und Zuhause nicht. So bleibt alles etwas wolkig, aber nicht unbedingt auf die neugierig machende Weise. Dafür ist der Tanz zu eindeutig gefühlsillustrativ und absehbar. Nach der anfänglichen Traurigkeit und leichten Lethargie suchen die Tänzer*innen Schutz oder Balance. Über Krämpfe, Kämpfe und Versöhnung finden sie zu fluideren und lockeren Bewegungen mit kleinen Sprüngen, als ihnen schließlich die Erkenntnis kommt: „Ich bin mein eigenes Zuhause.“ 

Ein getufteter Teppich in kräftigen Türkis-, Rot- und Pink-Tönen, dessen Umrisse eine Flamme nachzeichnen, liegt am Ende über dem unscheinbaren Standardexemplar. „Er entspricht nicht der Norm“, erkannte ein Mädchen sehr richtig. Und auch, wenn das Stück selbst nicht so viel Feuer geschlagen hat wie der Teppich und der prasselnde Soundtrack behaupten, könnte es eine offene Tür sein, durch die man gemeinsam gehen und doch über konkretere Erfahrungen mit Normen, Regeln und dem eigenen Zuhause sprechen könnte. Nahbar genug wirkte das Team jedenfalls. 

 

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