Werden alle zu halten sein?
Alessandra Ferri hat das Wiener Tanz-Niveau blitzartig in die Höhe geschraubt
Kallirhoes Schönheit wird mit jener der Göttin Aphrodite verglichen, und sie wird daher von vielen Männern begehrt. Nach einer Eifersuchtsszene ihres Mannes Chaireas verfällt sie in einen Scheintod und wird begraben. Als das Grab geplündert wird, wird sie entführt und an den adeligen Witwer Dionysios verkauft. Zu ihrem eigenen und ihres Ungeborenen Schutz heiratet sie Dionysios. In weiterer Folge wollen sie auch noch Mithridates und der König von Babylon besitzen, bevor es dann zu einem Happy End kommt, und Kallirhoe nach einigem Zögern Chaireas, der sich auf die Suche nach ihr gemacht hat, verzeiht. Grundlage für diese Geschichte ist der älteste vollständig überlieferte antike Liebesroman, verfasst von Chariton von Aphrodisias. Guillaume Gallienne kürzte für sein Libretto die Geschichte, Philip Feeney arrangierte vor allem Musik aus dem Ballett „Gayaneh“ aber auch einige andere Werke von Aram Chatschaturjan. Jean-Marc Puissant orienterte sich für Bühne und Kostüme an der Antike, versah diese aber mit einem zeitgenössischen Touch.
Schauspielende Tänzer*innen
Grundlage für Alexei Ratmanskys Choreografie bildet die neoklassische Balletttechnik, erweitert durch zeitgenössische, sportive Bewegungen, Inspirationen von antiken Abbildungen sowie volkstanzhaften Elementen. Auffallend sind manch spektakuläre Hebungen und Sprünge. Das weibliche Corps de Ballet setzt er teilweise wie einen antiken Chor ein. Ratmansky schafft es, die etwas komplizierte Handlung verständlich in Bewegung umzusetzen und auch die Gefühle der Protagonist*innen gut darzustellen. Das Ergebnis ist ein handwerklich gut gemachtes knapp zweieinhalbstündiges Handlungsballett in der Tradition des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in welchem die Tänzer*innen nicht nur technisch gefordert werden, sondern auch schauspielen müssen. Bei der Einführungsmatinee hat man einen Eindruck davon bekommen, wie wichtig es Ratmansky ist, dass die Tänzer*innen immer auch einen Subtext zu der Choreografie haben und nicht nur Bewegungen nachmachen. Es ist verständlich, dass Alessandra Ferri dieses Ballett, das am 5. März 2020 unter dem Titel „Of Love and Rage“ beim American Ballet Theatre zur Uraufführung gekommen ist, für ihre Eröffnungspremiere ausgewählt hat, denn es passt gut in die Wiener Staatsoper. Darüber hinaus gibt es zahlreiche inhaltlich kleine aber technisch anspruchsvolle Solorollen.
Technische Brillanz
Madison Young, nach fünf Jahren beim Bayerischen Staatsballett wieder nach Wien zurückgekehrt, begeistert als Kallirhoe sowohl mit exzellenter Technik als auch großartiger Schauspielkunst. Man glaubt ihr jede Gefühlsregung von grenzenloser Liebe über Verzweiflung und Trauer sowie Angst. Am Ende ist sie eine starke Frau, die, nach allem was sie durchlebt hat, nicht sofort in Chaireasʼ Arme fällt. An ihrer Seite brillieren sowohl ein sprunggewaltiger Victor Caixeta (Chaireas) und ein lyrischer aber ebenso starker Alessandro Frola (Dionysios). Beide harmonieren gut mit Young und gaben – so wie Marcelo Gomes als König von Babylon – ihr Hausdebüt. Rinaldo Venuti als Chaireasʼ Freund Polycharmos beeindruckt ebenso mit großer Sprungkraft und viel Verve. Ionna Avram, wie immer technisch versiert, ist eine hochmütige Königin von Babylon, die verzweifelt mitansehen muss, wie sich ihr Mann in Kallirhoe verliebt. Rosa Pierro (Plangon) schwankt zwischen Loyalität zu ihrem Herrn Dionysios und Unterstützung von Kallirhoe. Die anspruchsvolle Choreografie mit vielen hohen Battements und Développés meistert sie mit Leichtigkeit
Das gesamte Ensemble zeigt sich auf einem hohen technischen und energetischen Niveau mit viel Spielfreude. So kann man das Wiener Publikum wieder für das Handlungsballett begeistern. Auch, wenn man die Frage stellen kann, ob man 2020 bzw. 2025 noch ein neues Handlungsballett kreieren sollte, indem Frauen als Trophäe gesehen werden und häusliche Gewalt hinter geschlossener Türe stattfindet. Nichtsdestotrotz berechtigterweise viel Jubel für eine sehr tolle Leistung.
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