Demokratisierung des Tanzes
„In C“ von Sasha Waltz eröffnet das 5. tanzmainz festival
„Wir sind Traumtänzer in dieser ver-rückten Welt. Oder doch eher Seiltänzer? Ohne Netz. Unser Netz ist die Kunst.“ So Sasha Waltz und Jochen Sandig über sich selbst. Doch sie spüren langsam das Alter auf sich zukommen, die Endlichkeit, da sei es an der Zeit, einen umfassenden Rückblick zu wagen. Damit wollen sie „das Papier zum Tanzen bringen.“ Das gelingt ihnen überzeugend!
Den wenigen großen Schriften über das Ensemble fügen sie keine aktuellen Analysen der letzten Choreografien oder weitere Lobeshymnen der Kritik hinzu. Stattdessen entwickeln sie mit dem Gestalter Daniel Wissmann – sehr überraschend – gleich zu Beginn des Buches auf 200 Seiten poetische Collagen, die sie etwas trocken „Codes“ nennen: Proben- und Aufführungsfotos, Arbeitsskizzen, kunstgeschichtliche Bilder und knappe Texte umreißen insgesamt 65 szenische Gebilde aus dem Oeuvre von Sasha Waltz.
Einblicke in 65 Codes
Es beginnt zurückhaltend, mit unspektakulären Bildern zum Code „Anfang“, in dem Waltz bekennt: „Wenn man ein Stück anfängt, ist das, als ob man von einem Riesenfelsen hinunterspringt…“ Doch dann wird es üppiger bei „Animal“: Fotos animalischer Tanz-Figuren aus unterschiedlichen Arbeiten. Eine Tier-Mensch-Malerei der Choreografin. Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“. Das stachelige Wesen aus dem Werk „Kreatur“. Wunderbar ist auch die umfangreiche Kreation „Kreis“, mit eindringlichen Bilder aus „Sacre“, „Women“ und „Medea“. „Der Kreis ist eine magische Gestalt. Er markiert einen Ort, an dem sich ein Zauber vollzieht, ein Ritual, eine kultische Handlung.“
Zarte Gebilde wie „Blumen“ oder „Ei“ fügen sich zu kleinen Codes, im Gegensatz zu „Schlangen“ oder „Linien“, in denen sich liegende, ausgestreckte Tänzerinnen und Tänzer festhalten und durch gigantische leere Museumsräume winden. Weitere Collagen folgen, etwa zu „Flüssigkeit“ und „Wasser“: Auf einer Doppelseite Fotos der Oper „Dido & Aeneas“ mit tauchenden Tanzenden in riesigen Aquarien. Auf einem Foto trinkt die Tänzerin einen Schluck aus einer Pfandflasche. Spektakuläres und Banales…
Unbestimmte aber eindrucksvolle poetische Collagen
Körperbilder ziehen sich leitmotivisch durch: „Knäuel“, „Körper“, „Körperberge“, „Perfekte Körper“. Dazu, manchmal persönliche Stimmen: „Als Kind wurde ich aus dem Ballettunterricht entlassen“, schreibt eine Tänzerin des Ensembles, „da ich weder in die klassischen Gestik-Korsette hineinpasste noch den dafür perfekt geeigneten Körper besaß.“ Manchmal poetisch: „Ohne zu greifen trägt die Hand den Arm, das Schulterblatt das warme Gewicht eines weiteren Körpers. Das Gewicht von Geschichten ganz nah. Verletzlich werden sie, begriffen zu werden.“
Fast alle 65 Codes werde kurz kommentiert. Manche tauchen in den Stücken der Company häufiger auf, andere seltener. Doch sie bilden kein tanzdramatisches Alphabet, kein Bewegungsvokabular wie „In C“, den 43 streng umrissenen Bewegungs-Vorgaben der Choreografin für offene Improvisationen. Alle diese poetischen Collagen bleiben unbestimmt, sind offene Gebilde. Sie mobilisieren Erinnerungen, fordern eigene Fantasien und individuelle Assoziationen heraus, selbst wenn man ihre Arbeiten kaum kennt.
Ein staunendes Sich-Treiben-Lassen
Die 200 Seiten sind eine große Herausforderung. Die Herausgeber*innen nennen sie „enzyklopädische Wunderkammer“. Ist sie rational zu verstehen? Oder sollte man sich ihr besser neugierig ausliefern wie einer unbekannten Choreografie, sich staunend darin treiben lassen?
Bei aller Euphorie sind die Codes nur Übersetzungen. In der Beschreibung von Tänzen gehen körperliches Miterleben, der spezielle Kontext, die Einmaligkeit und Authentizität einer Aufführung natürlich verloren. Doch allemal können diese poetischen Collagen den Zugang zum Werk von Sasha Waltz ermöglichen oder vertiefen – und als eigenständige Kunststücke genossen werden.
Ein Archiv, das atmet
Nach diesem poetischen Auftakt wechselt das Buch die Perspektive – und wird zur präzisen Chronik des Ensembles.100 Seiten widmen die Herausgeber*innen einer Chronologie, die sämtliche Projekte von Sasha Waltz ab 1993 akribisch Jahr für Jahr auflistet. Es geht ihr dabei immer um den offenen Dialog der Künste im Raum. Deren gelegentliche Nummerierung führt sie bis heute fort. Diese Entwicklung wird detailliert vorgestellt.
Für jedes Jahr von 1993 bis 2024 ist nachzulesen, welche Arbeiten neu entstanden oder wiederaufgeführt wurden. Dazu gesellen sich Szenenbilder und kurze Beschreibungen neuer Choreografien. Im ersten poetischen Abschnitt der Publikation wurden sämtliche Fotos mit einem winzigen Quellvermerk versehen, das Nachschlagen der Stücke im zweiten Teil wird empfohlen.
Waltz gründete 1993 mit Sandig ihr Ensemble im damals nicht gerade tanzaffinen Berlin. Hier entwickelte sie ihre ersten „Dialoge“ mit Musik und Bildender Kunst, fand später eine feste Spielstätte in den Sophiensälen. Im Jahr 2000 – man darf schon sagen – knallte sie mit ihrer Choreografie „Körper“ in die westdeutsche Tanztheaterszene. Damit eroberte sie die Bundesrepublik, nach ihrer Berufung an das legendäre Berliner Theater Schaubühne.
Von der Schaubühne in die Welt
Von dort entwickelte sie ihre Kunst mutig weiter, ging weit über die Grenzen des Tanztheaters hinaus: bei der Eroberung großer Museen wie des Jüdischen Museums Berlin, des MAXXI in Rom oder der Hamburger Elbphilharmonie – sowie durch die Inszenierung von Opern und Oratorien wie „Dido & Aeneas“ oder der „Johannes-Passion“, die sie als Gesamtkunstwerke von Musik, Bewegung und Raum verstand. Im „Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe“ (ZKM) präsentierte sie 2005 eine Zwischenbilanz ihrer Arbeit. Ganz nebenbei engagierte sie sich auch gesellschaftlich, gründete ein tänzerisches Kinderensemble und ließ geflüchtete Menschen auf die Bühne.
So wird das Buch selbst zur Choreografie: erst poetisch, dann dokumentarisch, immer im Wandel. Zwischen den Bildern, Daten und Erinnerungen lässt sich erahnen, was Waltz’ Kunst ausmacht – Bewegung, die sich festhalten lässt und doch entgleitet. Ein Archiv, das atmet.
Sasha Waltz / Jochen Sandig (Herausgeber) „Sasha Waltz & Guests“, Verlag Hantje Cantz, Hardcover, Deutsch/Englisch, 344 Seiten, 58 Euro
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