Bittersüßer Abschied
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„Cinderella“ von Jean-Christophe Maillot am Aalto Theater Essen
Von Nico Hartwig
Mutter tot, Stiefmutter fies, Fee schrullig: Cinderella träumt vom Ball, tanzt, verliert den Schuh – und bekommt am Ende den Prinzen. Happy End unvermeidlich. Die Geschichte ist bekannt.
Im April 1999 choreografierte Jean-Christophe Maillot seine „Cinderella” für das Ballett der Opéra de Monte-Carlo, das er seit 1993 (und bis heute) leitet. Heute, 26 Jahre nach der Uraufführung, hat sich das Essener Aalto Ballett diese Choreografie ausgesucht, weil das Stück laut Programmheft angeblich „absolut zeitlos und frisch“ ist – „wie eine neu erdachte Produktion.“
Ich sitze zwischen Goldranduhren, Ehepaaren und Großelternpaaren mit Perlencolliers – ich, das queere Kind eines Fliesenlegers, das Ballett liebt und trotzdem jedes Mal gegen die Wände dieser Ästhetik und ihrer angestammten Räume anrennt. Maillot ist bekannt für seine poetisch erzählten Handlungsballette. Er zeichnet die Archetypen des Märchens dann auch mit souveräner Verspieltheit, aber auch gänzlich ohne Überraschungen. Der Vater: gutmütig und stark. Die böse Stiefmutter: bissig und „man-eating“. Ihre Töchter: exzentrisch und grotesk. Cinderella: im weißen Kleid und als Einzige ohne Schuhe – die jungfräuliche Unschuld, wie sie im Märchenbuch steht.
Wandelnder Calvin-Klein-Flakon
Cinderellas Füße werden in eine Schale mit Asche getaucht – danach glitzern sie golden. Auf den klassischen Glasschuh verzichtet Maillot komplett. Die Füße selbst seien das Gold der Ballerina. Cinderella rennt elegant über die Bühne, das Licht des Verfolgers setzt ihre funkelnden Füße mit Pathos in Szene. Die Rolex neben mir klatscht gerührt. So weit so hübsch, aber – und nun kommt ein großes ABER: Die Geschlechterverhältnisse in Maillots Deutung sind mehr als nur altmodisch. Sie knarzen wie Omas Vitrinenschrank aus den 50ern.
Natürlich befördert das klassische Ballett durch seine traditionellen Herangehensweisen an Partnering binäre, heteronormative Rollenverteilungen: Der Mann hebt, die Frau wird gehoben. Doch stilistische Konventionalität ist keine Notwendigkeit – sie ist eine Entscheidung, besonders im Jahr 2025. Und ja: Es ist für eine Ballerina körperlich absolut möglich, einen Mann zu heben.
Maillots Prinz wirkt wie ein wandelnder Calvin-Klein-Flakon mit schmieriger Frisur. Genüsslich lässt er sich von seinen Dienern die Füße küssen. Er versprüht mit seiner Boygroup Testosteron bis in den zweiten Rang und haut sich theatralisch auf das Gemächt. Dazu bekommt er hier mehr Raum als die Titelfigur, die oft nur reagierend auftreten darf. Aber das saftige Solo einer Cinderella, die sich ja letztlich ziemlich clever nimmt, was sie will, bleibt aus.
Mehr als irritierend wird es dann, als der Prinz mit seinen Jungs (Hey, ging‘s hier nicht mal um Cinderella?) mit einem Schiff in „ferne Länder“ fährt: Vier Tänzerinnen sind in Rot und Gelb geschminkt und mit Braids-Perücken ausgestattet. Das ist nicht nur aus der Zeit gefallen, sondern eine plumpe Reproduktion rassistischer Stereotype, die zur Handlung zudem so rein gar nichts beiträgt.
Das ist halt Ballett
„Das ist halt Ballett“, sagt meine Begleitung, als ich meine Irritation äußere. Der Satz tut weh. Weil es durchaus Ballett-Produktionen gibt, die Klischees nicht einfach bestätigen. Weil Märchenhaftigkeit nicht automatisch Unterwerfung bedeuten muss. Und weil es doch gleichzeitig schwer ist, sich von einer Ästhetik zu lösen, in der man groß geworden ist.
Die Aalto-Compagnie jedenfalls präsentiert sich an diesem Abend in Topform – nicht verbissen, sondern warmherzig und mit tänzerischer Lebendigkeit. Das Corp de Ballet glänzt durch Ausdruck, Kraft und Synchronizität. Das Essener Publikum liebt es dafür. „Es sieht so toll aus“, seufzt eine ältere Frau hinter mir. Ich frage mich, ob sie es stören würde, wenn Cinderella ein bisschen mehr tanzen würde. Oder wenn sie den Prinzen hebt, statt umgekehrt. Wäre das schlimm?
Es geht nicht darum, alles zu dekonstruieren. Eine Handlung kann berühren – die Frage ist nur: Wie wird erzählt, aus wessen Perspektive? Die Entscheidung, eine Choreografie aus den Neunzigern unverändert zu zeigen, ist nicht neutral. Sie wirkt wie ein stiller Rückgriff – nostalgisch, aber auch bequem. Am Ende gibt‘s Standing Ovation für das Paar im Goldregen.
Dieser Text entstand im Rahmen des Projekts „Bewegungsmelder – Nachwuchswerkstatt für Tanzjournalismus aus NRW“, einer Kooperation von tanznetz mit dem Masterstudiengang Tanzwissenschaft des Zentrums für Zeitgenössischen Tanz (ZZT) an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und dem nrw landesbuero tanz.
tanznetz hat ein umfangreiches Archiv, hier finden Sie die Links aus 20 Jahren zu bisherigen Rezensionen dieser Aschenputtel-Choreografie von Jean Christophe Maillot:
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