Twerking statt Flamenco

Das Theater Basel zeigt „Carmen“, als modernes, hin- und mitreißendes Musiktheater

Die Choreografin Constanza Macras inszeniert ihre Arbeit als Hybrid aus Oper und Tanz, im Gestern und Heute. Carmen als Oper oder doch als Ballett?

Basel, 05/02/2024

Der Repertoireklassiker aus dem Jahr 1875 von Bizet und dem Mythos der verführerischen Frau im roten Kleid gilt als meistgespielte Oper. „Carmen“ ist auch als Ballett eines der Lieblingssujets von Choreograf*innen, mit Stars wie Sylvie Guillem oder Zizi Jeanmaire in der Rolle der Carmen. Die wohl berühmteste zeitgenössische Interpretation stammt von John Cranko, uraufgeführt vom Stuttgarter Ballett 1971 mit Marcia Haydée und Richard Cragun in den Hauptrollen.

Carmen bedeutet populäre Musik zu einer komischen Geschichte mit einem tragischen Ende. Carmen ist ein brisantes Spiel um Liebe und Macht. Die umschwärmte Zigeunerin Carmen trifft in Sevilla in dem Soldaten Don José einen Mann, der ihr rettungslos verfällt, sie durch seine Liebe aber auch einengt. Im Konflikt zwischen ihrer Freiheit und dieser Liebe entscheidet sie sich für die Freiheit – mit tödlichen Konsequenzen.

Femme Fatale und feministische Aktivistin

Basels Neufassung zeigt Carmen als eine energetische Show. Die aus Argentinien stammende Choreografin Constanza Macras arbeitet für ihre erste Inszenierung eines Opernklassikers die revuehafte Seite von Bizets Meisterwerk heraus, aber auch das „Othering“, die Anziehungskraft und gleichzeitige Bedrohung des Andersartigen. Ihre Carmen ist unabhängig, radikal und selbstbewusst. Sie ist Femme Fatale und zugleich feministische Aktivistin. Mit ihrer erotisch-dämonischen Ausstrahlung betört sie die Männer, so auch den bürgerlichen Soldaten Don José, dessen Besitzansprüchen sie bis zum Schluss trotzt.

Constanza Macras entwickelt Choreografien für Film und Fernsehen, darunter der preisgekrönte Film „The Favorite“ von Yorgos Lanthimos. 2003 gründet sie ihre Tanzkompanie DorkyPark. Diese versteht sich mit Tanz, Text, Live-Musik und Film als interdisziplinäres Ensemble. Seit 2021 residiert Macras an der Volksbühne Berlin. Die Basler Inszenierung entstand in Koproduktion mit DorkyPark.

Bilder von Frauen- und Arbeiterstreiks

Den Anfang des Abends bestreiten ihre sechs Tänzer*innen; sie zeigen wilde, akrobatische Bewegungen. Sie tanzen im Eingangsbereich einer Tabakfabrik, die vom Militär bewacht wird, eindrücklich verkörpert durch einen Männerchor. Die hereinströmenden Arbeiterinnen sind sowohl Chorsängerinnen wie Tanzende. Bilder und Filmausschnitte von Frauen- und Arbeiterstreiks überdecken die Szenerie. Banner heißen beispielsweise: Women Rights are human Rights. Die Choreografin versetzt die Handlung mit zeitgenössischer politischer Kritik, mit vielen Referenzen an Film und Fotografie. Der weitere Verlauf der Handlung spielt in einem Zirkuszelt (Bühnenbild: Simon Lesemann). Carmen (Rachael Wilson) ist keine Verführerin im roten Kleid, sie tanzt keinen Flamenco und klappert nicht mit Kastagnetten. Sie ist eine rebellische Zirkus-Tänzerin, eine Gladiatorin mit Peitsche. Diese Carmen, die am Schluss von ihrem verschmähten Geliebten umgebracht wird, wird symbolisch als Aktivistin gegen Gewalt an Frauen dargestellt.

„Carmen“ ist Pop

Bizets Oper ist mit volksmusikalischen Elementen und anderen Musikstilen durchsetzt; genauso eklektisch arbeitet auch Macras. Den verschiedenen Musikstilen von Bizets setzt sie ihr politisches und humorvolles Tanztheater jenseits der Genregrenzen gegenüber. Ihr Vokabular stammt mehrheitlich aus der Popszene. „Carmen“ ist für Macras nicht nur Polittheater, sondern eigentlich Pop. Ihre Carmen trägt Glitter und Glanz, sie geht auf hohen Plateauschuhen, ist mal Madonna und mal Lady Gaga. Tanzstile wie Kostüme erinnern an die 80er Jahre und reichen über die Vielfalt der Street Parade bis zur Fasnachtszeit.

Macras benutzt hybride Tanzformen, wie zum Beispiel Vogueing oder Twerking, ein aktueller, sexuell konnotierter Bewegungsstil mit rotierenden und zitternden Hüften und Hinterbacken, der vor allem auf den sozialen Medien kursiert. Auf der Bühne wirkt er etwas überstrapaziert. Twerking wechselt sich ab mit einfachen, bewusst etwas unbeholfenen Grand Jetés aus dem klassischen Ballett, reicht von bravem Revuestil aus dem 19. Jahrhundert über Disco bis zu Akrobatik (Artist: Artist Moritz Lucht).

Die Dialoge werden auf Englisch gesprochen und die Liedtexte auf Französisch gesungen. Und auf kleiner Fläche links und rechts oberhalb der Bühne auch auf Deutsch, aber wenig gut einsehbar projiziert.

Musikalisch mit Verve, sensibel und dynamisch

Rachel Wilson singt und zeigt mit Verve eine hinreißende Carmen, selbstsicher, frech   wild auftretend und ausstaffiert (Kostüme: Slavna Martinovic). „Die Liebe ist ein rebellischer Vogel“, singen die Frauen im Chor mit Pathos. Die Gegenspielerin Micaela, die auf Wunsch seiner Mutter José heiraten möchte, ist keine Heilige, sondern ebenfalls eine starke Frau mit starker Stimme (Sarah Brady). Macras bricht mit Frauenbildern und mit Männerrollen und zwar auf eine sympathische und schelmische Art. Man kommt nicht umhin, man muss die schrägen Figuren, Dominas und stolzierenden Männer, einfach mögen.

Die musikalische Leitung hat Maxime Pascal, ein junger, mehrfach ausgezeichneter Dirigent. Das Team mit dem Sinfonieorchester Basel, dem Chor und dem Extrachor des Theater Basel sowie der Mädchenkantorei Basel und den Solist*innen war am Premierenabend hervorragend eingespielt, nie überdeckte die Musik die Stimmen der Sänger*innen. Die Chöre und die Tanzenden hingegen unterstützten Pascal und sein Orchester mit Volumen und Dynamik. Immer wieder erntete das musikalische Ensemble zusammen mit den Tänzer*innen großen Zwischenapplaus aus dem Publikum.

Todesahnungen

So unterhaltsam und fröhlich und mit revolutionärem Touch die ersten beiden Akte, die sich anderthalb Stunden etwas in die Länge ziehen, über die Bühne gehen, so kippt gegen Ende und im dritten und vierten Akt die Stimmung – von der Ausgelassenheit in die Tragik. Die Liebesqualen von Don José (Edgaras Montvidas) gehen ans Herz. In der Vorahnung auf den Tod hebt Rachel Wilson wunderbar noch einmal zu ganz großen Tönen an. Für etwas Klamauk, damit es nicht allzu ernst wird, sorgt Escamillo (Kyu Choi) als tollpatschiger Torero, der sich mit Don José duelliert. Ein letztes Mal versucht José Carmen zu erobern, doch sie liebt ihn nicht mehr, verstößt ihn und nimmt ihr tragisches Ende in Kauf.

Constanza Macras schafft die Schwierigkeit, den Tanz als eigenständige Sparte zu handhaben und ihn trotzdem wie selbstverständlich in die Oper zu integrieren. Sie findet auch für die Sänger*innen und Chöre eine Bewegungssprache. Wenn das volle Ensemble in kunterbunten Glitzerkostümen auf der Bühne steht, wirkt es fast homogen. Oper UND Tanz. Geht doch!

Mit einem etwas aufgesetzten, nachdenklichen Abschluss, indem auf einem durchsichtigen Vorhang Dutzenden von Femiziden gedacht wird, geht dieser fulminante, mit Ovationen bedachte Abend zu Ende. Es gab aber auch Enthaltungen und vereinzelte Buhrufe, vor allem stießen die Tanzeinlagen und die Verulkung des originalen Stoffes offenbar nicht bei allen auf Resonanz.

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