„Tempo Rubato“ von Dustin Klein

Zeitreise unterm Brennglas

In der Burg Riom in der Schweiz präsentiert Dustin Klein seine Uraufführung „Tempo Rubato“

Auf kleinstem Raum zeigen Tänzer*innen des Staatsballetts München klassischen Tanz in Vollendung und sorgen für ein weiteres Schmuckstück im diesjährigen Tanzprogramm des Origen Festival Cultural.

Riom, 30/07/2023

Dustin Klein ist Stammgast beim Origen Festival Cultural; sieben Jahre in Folge hat er hier nun bereits Uraufführungen präsentiert und just hatte „Tempo Rubato“ » in der Burg Riom Premiere. Es ist schon die fünfte Tanzuraufführung des diesjährigen Sommerfestivals, dessen Programmdichte und -vielfalt so beeindruckend ist wie die Landschaft, in die es eingebettet ist. Und es ist für den Tanz erst Halbzeit, denn es folgen noch vier weitere Uraufführungen in den nächsten zweieinhalb Wochen. Dustin Kleins Zuneigung für den so besonderen und inspirierenden Ort und das Festival, dessen Intendant Giovanni Netzer ihm immer wieder neue Werke anvertraut, ist groß.  

Auch für Klein galt es in seiner neuen Arbeit an das Thema «Zeit», dem Motto des diesjährigen Festivals anzuknüpfen und er hat dafür einen interessanten Weg gefunden. Er ist quasi der choreografische Veranstalter einer knapp 50minütigen Reise durch die Zeitalter der Musik, auf die das Publikum in der Burg Riom von den zwei Tänzerinnen (Madison Young und Carollina de Souza Bastos) und drei Tänzern (Ariel Merkuri, Severin Brunnhuber und Rafael Vedra) entführt wird. Alle fünf gehören zum Bayerischen Staatsballett, wo Klein, auch in München ansässig und freiberuflich tätig, bis vor einigen Jahren selbst Tänzer war. 

Im Einführungsgespräch erläutert er, er wolle keine Geschichte erzählen, es ginge in „Tempo Rubato“ rein um den Tanz und die Musik. Es erfordert Ehrlichkeit, sich von dem Anspruch, eine Geschichte erzählen zu wollen, zu befreien. Und Geschick, dieses wiederum so anspruchsvoll umzusetzen, wie es hier geschieht. Außerdem liegt es per se in der Natur beider Kunstformen, dass sie erzählend sind und Bilder schaffen. Ganz wie bei der titelgebenden musikalischen Vorgabe „Tempo Rubato“ dürfen letztere in der eigenen Vorstellung in Tempo und Ausdruck frei variieren, sich im Geiste zu Assoziationen und vielleicht auch gar Geschichten entfalten. 

Nach seinem zeitgenössischen Stück im Julierturm im vergangenen Jahr hat Dustin Klein für «Tempo Rubato» die klassische Handschrift gewählt. Vielleicht überraschend, da auf einer so kleinen Bühne wie in der mittelalterlichen Burg Riom nicht unbedingt zu erwarten. Das Publikum sitzt nah um die Bühne herum, ja eigentlich auf ihr, und auch die vorderen Reihen der Tribüne, die eigentlich in diesem Jahr nicht genutzt wird, sind wegen großer Kartennachfrage noch gefüllt worden. Das enge Beieinander von Tanz und Zuschauenden hat seine ganz besondere Intensität. Manchmal wünscht man sich zwar, die Burgmauern würde vor einem Grand Jeté eben mal kurz höflich zurückweichen. Denn die überschaubare Quadratmeterzahl der Bühne setzt der raumsprengenden Energie und den weiten Bewegungen, den Hebungen und Drehungen der hochkarätigen Tänzer*innen Grenzen. Aber gleichzeitig ist es ein großes Geschenk für das Publikum, die technische Beherrschung, souveräne Präzision und Expressivität ihrer Darstellung geradezu mikroskopisch nah erleben zu dürfen. 

Die Reise durch die Zeitalter beginnt in der Moderne mit Musik Arvo Pärts, geht rückwärts über die Romantik, Klassik, Renaissance bis ins Mittelalter. Zu Mendelssohn, Beethoven, Vivaldi und Hildegard von Bingen werden sie durchtanzt, Glockenschläge läuten die Zeitenwechsel ein und es entfaltet sich ein großes Panorama, in dem von Neoklassik bis zu Anklängen an die stilisierten höfischen Tänze alles anklingt. Mit der durchdachten, fließenden Choreografie und dem Tanz auf diesem hohen Niveau sind Ergebnis und Erlebnis - dies sei nicht als Platitude verstanden! - einfach schön.

Knallrot und in all ihrer Auffälligkeit trotzdem schlicht, setzen die Kostüme von Louise Flanagan einen effektvollen Kontrapunkt zum hellen Bühnenboden und den grauen Burgmauern und geben dezent-pfiffig kleine Hinweise auf die Epochen.

Das Lichtdesign von Konstantin Binkin wirft die Bewegungen der Tänzer*innen immer wieder fast wie eine Projektion auf den Boden und die transparenten langen Röcke und die Tutus der beiden Damen ergeben auf der weißen Fläche spielerische Muster, die mitzutanzen scheinen. Ein heimlicher Schattenakt. Das Licht verdichtet und weitet und trägt die Reise durch die Epochen elementar mit.

Wie eine Reverenz an die Burg endet die getanzte Zeitreise im Mittelalter zu Klängen Hildegard von Bingens. Die fünf Tänzer*innen finden sich in einem Kreis zusammen, abwechselnd mit dem Rücken zueinander und zum Publikum gewandt. Kontemplativ und konzentriert versunken, wie in einem Ritual, in dem sie in einem organischen Ablauf aus reduzierten Bewegungen und Handgesten, die an Gebärdensprache erinnern, Botschaften empfangen und weitergeben. Alles scheint zu verschmelzen in diesem fast sakral anmutenden Moment: Innehalten, Bewegung, Geben, Empfangen - ein ewiger Kreislauf aus Anfang und Ende.

So macht dann auch am Ende die Zeitreise den Bogen nochmal zurück zu ihrem Beginn bis Severin Brunnhuber, allein zurückbleibend, mit einem Port de Bras das Stück schließt und auch das Publikum zurück in die Gegenwart holt, wo es lautstark und lang anhaltend applaudiert.

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