„Sense of Place“ von Dustin Klein. Tanz: Ensemble.

„Sense of Place“ von Dustin Klein. Tanz: Ensemble.

Räume reichen sich die Hände

„Sense of Place“ von Dustin Klein beim Origen Cultural Festival 2022

In der sicher spektakulärsten Spielstätte des Festivals, dem Roten Turm auf dem Julierpass, berührt Kleins neue Choreografie die eigenen Innenräume.

Graubünden, 19/08/2022

Von Leslie Krumwiede

„Sense of Place“ ist Dustin Kleins neueste Choreografie für das gerade vergangene Origen Cultural Festival im schweizerischen Graubünden. Bereits sechsmal hat er auf Einladung des Intendanten Giovanni Netzer für das Festival kreiert. Und in diesem Jahr zum dritten Mal in der sicher spektakulärsten Spielstätte des Festivals, dem Roten Turm auf dem Julierpass, dessen hölzerne Konstruktion sich in knapp 2300m Höhe faszinierend in die Kargheit der Landschaft einfügt.

Dustin Klein hat dieses Werk für die Schwedin Sandy Chau, die Italienerin Erica D’Amico, die Japanerin Aya Sone und den Schweden Jon Olofsson Nordin – allesamt in München ansässig – entwickelt. Nicht nur für sie, sondern mit ihnen, denn es entstand aus einem einwöchigen Workshop, in dem er die vier auf innere Reisen schickte. Mit Worten, Bildern, Zeichnungen reflektierten sie über Räume, mit denen sie Erinnerungen und Emotionen verbinden, und die in „Sense of Place“ in vier fliessend ineinander übergehenden Abschnitten tänzerisch umgesetzt werden. Nacheinander erhalten die Tänzer*innen ihren eigenen darstellerischen Raum; es sind jedoch auch die jeweils anderen drei in jeden Teil involviert. Die Verbindung der vier Teile spiegelt sich auch in den von Louise Flanagan geschaffenen Kostümen wider, die alle aus demselben Stoff sind, aber sich durch ihre Schnitte voneinander abheben.

Wie eine grosse Scheibe hängt der bewegliche Bühnenboden im Inneren des Turms auf Höhe der ersten Etage; um ihn im Rund sitzt in zwei Reihen auf hölzernen Stufen das Publikum sehr nah am Geschehen. Die minimalistische bühnenbildnerische Gestaltung liegt in den Händen der Tänzer*innen. Dustin Klein bettet zu Beginn und zwischen den einzelnen Sequenzen „Auf- und Umbauten“ in die Choreografie ein, in denen die Vier in Windeseile ritsch-ratschend mit Malerkrepp Räume, Gegenstände, Möbel auf dem Bühnenboden andeuten, die den getanzten Seelenräumen ihren äußeren Rahmen geben und dem Publikum Anhaltspunkte für deren Verortung liefern.

Nachdem der erste Ort – klar als Zimmer zu erkennen – auf diese Weise skizziert ist, macht die ausdrucksstarke Aya Sone den Auftakt. Sie bewegt sich in einem Raum des Hauses ihrer verstorbenen Mutter, den sie ausräumen muss. Der Schmerz dieses Prozesses, der sie immer wieder mit teils auch vergessen geglaubten Erinnerungen konfrontiert, ist spürbar nicht nur in ihren Bewegungen, sondern auch in ihrer eindrücklichen Mimik. Synchron zu ihrer Darstellung ist in einer Aufnahme zu hören, in der sie auf Japanisch berichtet, was beim Finden, Sortieren und Wegwerfen in ihr vorging.

Auch in den folgenden Abschnitten erzählen die Tänzer*innen in ihren Muttersprachen, was sie jeweils zu ihrem Teil des Stückes inspiriert hat. Simon Lovermann hat alle Sprachaufnahmen organisch in seine facettenreiche Komposition verwoben. Sie tragen sie mit, ohne auch nur ansatzweise abzulenken.

Sandy Chaus Part ist am rätselhaftesten. Da hilft das Nachlesen des gesprochenen Textes, der wie alle anderen via im Foyer angebrachter QR-Codes in einem Dokument herunterladbar ist und der das dargestellte geradezu atemlose Entzücken erklärt. Es entspringt den Erinnerungen an die regelmäßigen Besuche in einer schwedischen Bäckerei, wo es ein Gebäck gab, das für Sandy eine Art „Madeleine“ ist. Und allein durch die Erinnerung an den Genuss wird Sandy auf eine innere Zeitreise geschickt.

Aber auch ohne die elegant gelöste Möglichkeit des Nachlesens der Texte übertragen alle die Emotionen und die Zwischentöne in ihren berührenden und ausdrucksstarken Darstellungen. So springt auch das überbordende Freiheitsgefühl über, das Erica D’Amico - in Erinnerung an Aufenthalte am Meer - in der dritten Sequenz raumgreifend darstellt und das abrupt Panik weicht, als sie bei einem Tauchversuch untergeht.

Die folgende nahtlose Überblendung beweist erneut, wie gut die Choreografie trotz der Unterschiedlichkeit der Geschichten eine Homogenität entstehen lässt. Hier weicht nun die Beklemmung der humorvollen Leichtigkeit des letzten Abschnitts des Stücks. An den geklebten Umrissen auf dem Boden ist unschwer zu erkennen, dass eine Toilettenkabine der zentrale Platz in dem erinnerten Raum von Jon Olofsson Nordin ist. In dieser findet er sich bei einem Club-Besuch wegen eines fehlenden Türgriffs unverhofft gefangen; seine anfängliche Ausgelassenheit schwindet zusehends. Die Befreiung lässt auf sich warten, während draußen getanzt wird, was das Zeug hält. Die Beats der Musik finden ihre Entsprechung im Licht (Design: Konstantin Binkin), das die Fenster des Turms bunt flackernd erleuchten lässt (und sicher auch schon vorbeifahrende Autoinsassen auf der dunklen Passstraße in Erstaunen versetzt hat).

Dustin Klein hat ein sehr gelungenes Stück Tanztheater geschaffen, das seinem Titel in jeder Hinsicht gerecht wird. Es schmiegt sich in die Architektur des Turmes hinein, die Perspektiven erlaubt, welche eine nur frontal bespielbare Bühne nicht bieten kann. Und es berührt die eigenen Innenräume.

Eine besondere Zugabe wartet nach der Vorstellung: Draußen in der kalten Nachtluft des Hochgebirges geben sich - silhouettenhaft im Mondlicht - die Berge unter dem sternenklaren Firmament ihrem ureigenen „Sense of Place“ hin.

 

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