„Schwanensee“ von Johan Inger, Tanz: Skyler Maxey-Wert, Ensemble

menschlich, fehlbar

Uraufführung von Johan Ingers „Schwanensee“ an der Semperoper Dresden

Überwältigend und berührend: Inger versöhnt uns mit uns selbst.

Dresden, 10/12/2023

Natürlich würde er seine ganz eigene Version wählen. Das stand bereits im Vorfeld fest. Johan Inger macht immer, was er will. Genau diese Eigenwilligkeit macht seinen Erfolg aus. In seinem „Schwanensee“ für die Semperoper gibt es deshalb ganz konsequent keine Federn. Dafür hat es aber Schleier. Und was für welche! Deren Material bewegt sich im Licht wie eine Mischung aus Wasser und Rauch. Schleier hat es hier deshalb, weil Inger als Grundlage für seine Choreografie das Märchen „Der geraubte Schleier“ aus der Sammlung „Volksmärchen der Deutschen“ von Johann Karl August Musäus (18. Jahrhundert) nutzt. Die Schleier sind es, die es den „Schwanenmenschen“ ermöglichen, zu fliegen und am Schwanensee an einem Tag im Jahr sie selbst zu sein, losgelöst von den Herausforderungen des Lebens. 

Alter, weißer Mann

Eine von ihnen ist Königin Zoe (hinreißend sanft: Zarina Stahnke), die unter der Kaltherzigkeit des Königs Zeno (amüsant überzeichnet: Christian Bauch) leidet. In seiner Klischeehaftigkeit und Zweidimensionalität ist er der alte, weiße Mann schlechthin. Ein Mensch zum Fremdschämen, der einem bedauerlicherweise immer noch täglich begegnet. Blickt man auf die Eingangsszene, eine Art Vorhölle, in der ein Junge (Leander Wilde) die Schleier an Auserwählte verteilt, wird man stutzig: Dort gibt es keine Geschlechter, hautfarbene Trikots inklusive Haube nivellieren alle Unterschiede. Die Handlung selbst aber zeigt nur zwei Frauen, für die ihr Schleier eine Fluchtmöglichkeit vor ihren tyrannischen Männern darstellt. 

König Zeno zerstört Zoes Schleier und nimmt ihr damit das Letzte, das ihre Freiheit ausmacht. Der Weg zum Schwanensee ist ihr damit verschlossen. Jahre später wird sich dort, am Schwanensee, eine vergleichbare Situation zeigen: Zoes Sohn Kallisto (mit ausgewogener Komplexität: Skyler Maxey-Wert) ist nach kriegerischen Wirren am Schwanensee gelandet, verwundet, wo er von Benno (wie gewohnt energetisch präzise: Jón Vallejo), Zoes inniger Liebe, gepflegt wird. Kallisto verliebt sich in die Schwanenfrau Odette (verschwenderisch emotional: Ayaha Tsunaki), deren Schleier er ohne ihr Wissen versteckt. Sie ist ihm treu zugewandt, leidet aber zusehends unter Kallistos Gebaren. Und genau damit wird es spannend und komplex. Kallisto ist kein Abziehbild König Zenos. Kallisto ist ein verletzlicher Mann, der seine Frau nicht verlieren möchte und um das zu erreichen die falschen Entscheidungen trifft. Dass Odette ihren Mann nach der Wiederentdeckung ihres Schleiers verlässt, kann als schlüssig gelesen werden. Damit liefert Inger ein trauriges Ende, in dem trotzdem ein immenses Maß an menschlicher Wärme zu erleben ist. 

Erweiterte Perspektive

Das alles haben Leticia Gañán und Curt Allen Wilmer in ein Bühnensetting gesetzt, das reduzierter nicht sein könnte. Über einem leeren Raum thront ein leuchtender Ring, dessen Innenleben zum einen als Projektionsfläche für Orte, zum anderen als Spiegel genutzt werden kann. Mittels Video wird die Choreografie um eine Dimension ergänzt, indem die Tänzerinnen und Tänzer zusätzlich von oben gesehen werden können. Dieses unterkühlte Setting, gepaart mit den äußerst kantig-futuristischen, monochromen Kostümen von Salvador Mateu Andujar schafft Inger hier überwältigende Bilder, denen es streckenweise gelingt, von der eigentlichen Dramaturgie abzulenken. Man dürfte sich angesichts dessen fragen, ob einzelne Szenen ohne diese großen Effekte genauso überzeugen würden, wäre man nicht damit beschäftigt, zwei Perspektiven gleichzeitig wahrnehmen zu wollen.  

Und immer wieder grätscht Ingers Humor dazwischen. Da lässt er den Chauvinisten Zeno in die Ecke pinkeln oder verhilft Odette mittels Fußpumpe zu einer Schwangerschaft. Zu ernst nimmt er die Sache nicht, bricht aber eben nur die emotionalen Momente, ohne sie damit zu zerstören. Weder dramaturgisch noch choreografisch lenkt Inger hier von seiner Aussage ab. Er macht deutlich, dass der alte weiße Mann ausgedient hat. Klar, falsche Entscheidungen trifft jeder immer wieder. Das bleibt nicht aus. Jemanden damit zu verletzen, ist in den wenigsten Fällen eine tatsächliche Absicht dahinter. Damit rückt Inger ein flaches Menschenbild zurecht und verweist auf die menschliche Fehlbarkeit. Das spiegelt sich auch in den Kostümen, die gegen Ende hin gebrochene Farben aufweisen und damit weicher wirken. Das hat etwas Versöhnliches. Das gelingt auch dadurch, dass die Sächsische Staatskapelle Dresden unter der musikalischen Leitung von Thomas Herzog in Variationen immer wieder auf das musikalische Motiv Tschaikowskys zurückkommt. 

Das Premierenpublikum zeigte sich derart angetan, dass eine Frage bleibt: Wie kann ab jetzt eine weitere „Schwanensee“-Inszenierung noch aussehen? 

 

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