"Peer Gynt" von Johan Inger. Tanz: Zarina Stahnke, Ensemble

"Peer Gynt" von Johan Inger. Tanz: Zarina Stahnke, Ensemble

Die Lügen des Peer Gynt und die Momente der Wahrheit

„Peer Gynt“ von Johan Inger in Dresden

Die Premiere der deutschen Erstaufführung beim Dresdner Semperoper Ballett wird euphorisch gefeiert.

Dresden, 07/06/2022

Der in Spanien lebende schwedische Choreograf Johan Inger begibt sich (vermutlich auch im biografischen Kontext) seiner Choreografie „Peer Gynt“ nach Henrik Ibsens dramatischem Gedicht zur Musik von Edward Grieg auf die Suche nach der Wahrheit. Er findet sie aber nicht. Und das ist gut so.

Ibsens Stück beginnt mit den Worten von Mutter Aase: „Peer, das lügst du.“ Peer antwortet, „Nein, es ist wahr.“ Abgewandelt in dieser so außergewöhnlichen, choreografischen Inszenierung, die vor fünf Jahren ihre Uraufführung am Theater Basel erlebte, könnte es auch heißen: „Peer, das lügst du.“ - „Nein, das tanze ich! 

In Johan Ingers mitunter regelrecht kämpferischem Wahrheitstanz wird gleich mal gebrüllt. Mutter Aase ist ein Mann. Der Tänzer Casey Ouzuonis zerrt den kleinen Peer in die Welt und hilft schon mal mit dem Teppichklopfer nach. Vielleicht hätte dieser kleine Peer aber doch noch lieber auf der Blockflöte gespielt. Diese Frage stellt sich immer wieder in dieser rasanten Tanzparade durch die Welten aus Traum und Wahrheit, aus Lügen und Sehnsucht jenes Peer Gynt, mit dessen fiktivem Leben der Choreograf Stationen seines eigenen Weges vermischt und verbindet. Was daran wahr ist oder nicht, am Ende scheint es nicht so wichtig. Denn es ist einfach großartig wie mitreißend Tänzer Christian Bauch sich als Peer gibt, mal brüllend vor Komik, mal in verbogener Selbsttäuschung, dann wieder hoch aufgerichtet, unbeugsam oder im nächsten Augenblick schon wieder schwankend oder in voller Kraft voraus auf den schäumenden Wellen unwiderstehlichen Charmes als flunkernder Scherzkeks auf Sprungfedern. Er tanzt sich lügend sich durchs Leben. Er kann die Versatzteile der Stationen seines Lebens ganz einfach nach Wunsch aus den Gassen der Seitenbühne ziehen. Er kann sie wieder zurückschieben, verloren geht nichts, denn am Ende wird es wieder da sein, das erste Versatzstück seines Lebens, das kleine Häuschen wie aus einem Kinderbaukasten der Märchenzeit, als noch alles scheinbar in vorgegebener Ordnung war. Aber dann gibt er darauf nichts. Dann wird auch gar nicht mehr so leicht zu erkennen sein, wer Peer Gynt ist und wer Johan Inger.

Ja klar, als Peer klaut er dem Bräutigam (Vaclav Lamparter) die Braut Ingrid - wunderbar getanzt von Svetlana Gileva als Ingrid -, um sie gleich darauf zu verlassen. Man denkt vielleicht auch an  Johan Inger auf seinem Weg in die Tanzwelt, wenn er sich von seiner künstlerischen „Mutter“ Birgit Cullberg und deren Sohn Mats Ek verabschiedet.

Manchmal aber muss der Choreograf Peer als Alter Ego zur Besinnung rufen oder gar aufwecken lassen, wenn die Traumwelten sich zu Lügenburgen aufbäumen. Eigens dafür, am Bühnenportal, neben einer Proszeniumsloge, die nicht zu überhörende Glocke. Und noch so ein Bild der fließenden Übergänge dieses choreografischen, musikalischen Fantasietheaters, bei dem ja sogar scheinbar Zuschauende auch auf der Bühne sitzen. Aber nein, sie werden sich wandeln, diese Sänger*innen des Dresdner Sinfoniechores. Und wer auf die Ohrwürmer der Musik zu „Peer Gynt“ von Edward Grieg wartet, wird nicht enttäuscht, ja sogar überrascht, wenn etwa Peer sich wieder in die Kindheit sehnt und Mateo Jean-Jean Philippe Cigal als kleiner Knopf auf der Blockflöte zarte Morgenstimmung erklingen lässt. 

Stefanie Knorr singt und spielt Solveig, sie liebt ihn, er will, dass sie auf ihn wartet, er baut ihr einen Altar aus IKEA-Teilen, sie wird warten, er bricht auf, „außenherum“ - so bei Ibsen „um die halbe Welt“ nach Marokko, macht kriminelles Geld als Sklavenhändler, will sich krönen lassen, zum Kaiser der Welt. Die Reise bei Johan Inger führt nach Spanien.

Muss man sich aber etwas dabei denken, wenn er seinen Peer Gynt zwar nicht zu einem klassischen Sklavenhändler werden lässt, statt dessen wieder ein Versatzstück aus der nächsten IKEA-Gasse zieht: Ballettsaal mit Spiegel und Stange. Und die Tänzerinnen reißen sich darum, ihm vortanzen zu dürfen, sie liegen ihm zu Füßen, es geht hoch her, jetzt mit Musik von Bizet, Flamenco, „Carmen“ - die große Verführerin grüßt den Verführer. Schluss, aus, dunkel! Es reicht.

Jetzt werden die selbsterlogenen Träume dieses Peer, der zu seinem eigenen Totentanzmeister geworden ist, zum Albtraum. Peer wird zum Mörder. Im Affekt, versteht sich. Solveig wartet. Die Mutter ist tot. Und wer ist dieser sonderbare Typ, der Krumme, dieser von John Vallejo getanzte Boigen, noch ein Rätsel, noch ein Widergänger? Einst besetzte Peter Stein zu Beginn der 70er Jahre an der Berliner Schaubühne in seiner Inszenierung von Ibsens Dichtung diesen Abenteurer Peer Gynt, der auszog um die Welt zu erobern, der immer seinem Ich hinterher läuft, mit sieben Schauspielern.

Mitunter möchte man nun meinen, Johan Ingers Tänzer*innen, mit ihrem Tanz durch die Geschichte dieser zwar wortlosen, dennoch so ausdrucksintensiven Kunst, werden auch immer wieder zu Spiegelungen dieses Lügen-Peers. Und wenn sie es erspüren, dann müssen sie über den Tanz hinaus gehen. Dann müssen sie schreien, denn es genügt eben nicht, sich selbst genug sein zu wollen, es gilt, immer wieder auf den fernen Klang zu achten. Hier ist es Solveigs Stimme, sie wartet, sie glaubt diesem Peer, diesem Johan, sie kann damit umgehen, dass Menschen ein Leben lang unterwegs sind, um ihr Leben zu finden, wenigstens für Momente, ganz schnell vergänglich, im Augenblick des Werdens. Und so erschließt sich auch, warum gerade der Tanz so geeignet ist, inmitten einer  verlogenen Welt Momente der Wahrheit aufblitzen zu lassen „um zu verstehen wer man ist und seinen inneren Frieden zu finden, bevor man stirbt“. Ganz gegenwärtig, im Kontext einer Geschichte von vorgestern und umhüllt von Klängen einer Musik, die auch wie aus der Ferne zu uns herüberklingt. Dass diese Klänge uns erreichen, verdankt sich dem Spiel der Sächsischen Staatskapelle unter der Leitung von Thomas Herzog.
 

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