„do white“ von miu.

„do white“ von miu.

Un_Sichtbarer Tanz der Moleküle

Mit „do white“ zeigt der Konzeptkünstler miu den zweiten Teil seiner Trilogie „Remixing Urban Infrastructure“ am FFT Düsseldorf

Die Einbindung von Audiodeskription als künstlerisches Mittel ermöglicht ein augenöffnendes Tanzerlebnis für sehendes, anders sehendes und nicht sehendes Publikum.

Düsseldorf, 17/11/2022

Im kompletten Raum sind sichtbare als auch unsichtbare Leitungen unterschiedlichster Kommunikationssysteme gespannt. Alles Anwesende ist zu einem Netzwerk aus permanentem Senden, Empfangen und Verarbeiten verflochten. Einmal in den Raum eingesogen, durchströmen verschiedenste Signale den ganzen Körper. Die multisensorische Performance formt sich zu einem inhaltlichen sowie ästhetischen Konstrukt der Vielschichtigkeit. Nach anfänglicher Reizüberflutung dringt die zarte Stimme der Audiodeskriptorin Kristin Schuster in das Bewusstsein ein, führt durch die Schichten.

 

Schicht I: Tastführung

„Das ist Soya Arakawa, er springt mit beiden Beinen. Das ist Baptiste Bersoux, er springt mit beiden Beinen hoch und landet mal auf einem, mal auf dem anderen Bein. Das ist Niels Bovir, Niels Fußspitze tippt vor ihm auf dem Boden.“

Die charakteristische Bewegungsausführung der drei Tänzer gibt Geräusche in den Raum. Das sehende Auge wird seiner Vormachtstellung bei der Rezeption von Tanz enthoben, der Hierarchisierung von Sinnesorganen befreit. Die Choreografie wird hörbar. In der zuvor angebotenen Tastführung wurde sie sogar spürbar. Gerade für nichtsehende Personen kann es vor einer Aufführung angenehm sein, sich mit der Organisation der Bühnensituation und den Beteiligten vertraut zu machen. Aber eben auch für sehendes Publikum ergibt das Abtasten von Strukturen einen performativen Zugang der Intermodalität.

 

Schicht II: Kommunikationssysteme

Innerhalb seiner Trilogie lotet miu Möglichkeiten aus, die städtische Infrastrukturen zu interpretieren. Der Ausgangspunkt bei dieser Produktion ist die Erforschung der zwei Kommunikationssysteme von Telefonzelle und Freifunk. Mehrere weiße Lichtquadrate bilden sich zeitweise zu temporären Architekturen zusammen. Erinnern an Telefonzellen in der Dunkelheit, die immer mehr aus dem Stadtbild verschwinden. Zwar nicht sichtbar, aber spürbar ist die Präsenz des Freinetzes, sowohl im Alltag als auch innerhalb der Performance. Arakawa sendet mit seiner Bewegungssequenz Signale aus, welche Bovir empfängt, übersetzt und als Klopfrhythmus auf eine der Leuchtquellen weitergibt, eine Reaktion bei allen Lichtern auslöst, die wiederum eine Einwirkung auf Arakawas Bewegungen haben. Anders als bei einem hierarchischen System, haben in diesem Fall alle Knotenpunkte wie bei einem Mesh-Netzwerk die Möglichkeit dynamisch aufeinander reagieren zu können.

 

Schicht III: Musik

Über dieses Prinzip funktionieren auch die kleinen Maschinen, die auf drei Stehlen im Raum verteilt stehen. Der selbst anwesende miu steuert über seinen Laptop den jeweiligen Minicomputer unabhängig einer Internetverbindung an und löst dadurch den kleinen Motor aus, der einen Schlegel bewegt und das Glockenspiel zum Klingen bringt. Einzelne Töne versetzen den Raum in eine Atmosphäre der ständigen Schwingung. Die Rhythmik des Geschehens folgt nicht dem Glockenspiel. Vielmehr gibt die Audiodeskription den Takt vor. Erst nach der präzisen Beschreibung des Vorgangs, reagiert der Raum, variieren Bewegungen in ihrem Tempo. Tanz wird zunächst in deutsche Sprache und darauffolgend noch ins Japanische übersetzt. Für Menschen, die kein Japanisch sprechen, legt sich dies wie eine begleitende Melodie über die Bewegungen der Tänzer. Die Einbindung autobiografischer Erfahrungen - miu stammt aus Japan und konnte nach einer Augenoperation selbst für längere Zeit nur eingeschränkt sehen - ermöglichen den Zugang für ein diverses Publikum. Doch es stellt sich die Frage, warum die Audiodeskription für alle hörbar sein muss? In welchem Verhältnis steht sie zu sehenden Personen?

 

Schicht IV: Audiodeskription

Die Beschreibung gibt nichtsehenden Menschen eine hilfreiche Orientierung, während es die Bewegung sehender Augen fast schon gewaltvoll übernimmt. Als ästhetisches Mittel hat die Audiodeskription den Hang zu einer Vereinheitlichung der Rezeption. In einem dynamischen Wechselspiel schärft sie zwar den Blick für vermeintlich unbemerkte Details, aber birgt die Gefahr der Manipulation. Das Gehörte wird einer ständigen Prüfung des Gesehenen unterzogen: „Der groovige Tanzschritt im Detail: Eine Ferse nach der anderen dreht zur Seite hin aus. Die Fußspitzen bleiben am Boden, drehen nur leicht mit. Beide Fersen also nacheinander nach links, das Gewicht wechselt dabei auf rechts. Der linke Ellbogen geht aus der angewinkelten Position weiter nach oben.“

Ist das wirklich ein grooviger Tanzschritt? Teilweise übernehmen die Worte die Funktion der Interpretation. An dieser Schnittstelle schließen sich für Sehende manche Freiräume und für Nichtsehende eröffnet es einen neuen Gedankenraum. Plötzlich entzieht sich Tanz seinem ephemeren Charakter, Bewegungen scheinen für Diskussionen zeitlich stabil zu werden.

 

Schicht V: Molekulare Ebene

Die von der Decke hängenden Röhren strömen den Raum mit gelblichem Licht. Wie in einer Unterführung schluckt es alle Farben. Mit dem Titel „do white“ stellt miu mit der Betrachtung der Farbe Weiß die Sichtbarkeit per se in Frage: Was wird sichtbar, wenn man Weiß betrachtet? Es steht für eine Vielschichtigkeit der Wahrnehmung, weil es in jedem Auge unterschiedlich gefiltert wird. Eine mögliche Befreiung der Hierarchisierung von Sehen, Anders-Sehen und Nicht-Sehen. Bald darauf ist es ganz dunkel, keine Struktur mehr erkennbar, vereint auf der Plattform der Moleküle. Auf der Bühne werden weiterhin Signale gesendet. Zwischen dem kompletten Publikum eben auch, doch erst im Dunkeln werden sie sichtbar. Man sieht seine eigenen Bewegungen nicht mehr, ist verunsichert: Kristin Schuster, könnten Sie bitte meine Bewegungen beschreiben?

 

Schicht VI: Zukunft

Die Performance erinnert daran wie gesellschaftlich konstruierte Barrieren den Alltag vieler Menschen behindern können und stellt mit der Audiodeskription als ästhetisches Mittel in der Kunst und dem Verweis auf das Prinzip des Freifunks eine Barrierefreiheit her. Im intensiven Austausch mit Audiodeskriptions-Expert*innen während der Entstehungsphase des Projekts ist das Team eindrückliche Schritte für einen integrativen Prozess im Tanz gelungen. Ist dieser Text von einer sehenden Person verfasst, dürfte eine Kritik einer nicht sehenden Person dazu eine schwerwiegendere Aussage zulassen: Welche Wünsche gibt es an das Format der Audiodeskription? 

 

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