"Verwandlung/Fremdkörper" von Cooperativa Maura Morales, Tanz: Raffaele Scicchitano, Eleonora Fabrizi, Marieke Engelhardt

Für den aufrechten Gang

Maura Morales begeistert mit „Verwandlung/Fremdkörper“ in Münster

Kein beschauliches Handlungsballett: Kafka bleibt Kafka und damit fremd und entfremdet

Münster, 13/06/2022

Von Hanns Butterhof

Einmal pro Spielzeit überlässt Hans Henning Paar, Chef des TanzTheaterMünster, sein Ensemble einem Gast aus der freien Szene. Jetzt konnte die kubanische Tänzerin und Choreografin Maura Morales unter großem Beifall im Kleinen Haus des Theaters Münster den seit einem Jahr angekündigten Tanzabend „Verwandlung/Fremdkörper“ realisieren.

Die Tanzkompanie Cooperativa Maura Morales besteht im Kern aus der namengebenden Choreografin und dem Musiker Michio Woirgardt, ein explosives Duo, das in Düsseldorf beheimatet ist und von dort aus die Bühnen der Welt bespielt.

Beschauliches Handlungsballett ist Sache von Maura Morales nicht, auch wenn sie sich für „Verwandlung/Fremdkörper“ auf die 1912 von Franz Kafka verfasste Erzählung „Die Verwandlung“ bezieht. Wer den Text nicht kennt, wird sie aus dem gut einstündigen Tanzabend auch nicht erfahren. Im Zentrum steht, noch als aktueller Anknüpfungspunkt aus den Zeiten der Pandemie, das kafkaeske Gefühl der unendlichen Einsamkeit, des Verlusts von Beziehungen und der Unfähigkeit, zu kommunizieren.

Direkte Bezüge zu Kafkas Erzählung sind selten, aber deutlich. Schon zu Beginn ist die Welt nicht mehr so, wie sie sein sollte. Stühle stehen kopfüber unter der Decke, Fenster hoch in den Seitenwänden zeigen eine enge tapezierte Kammer oder den Blick hinaus in einen locker weiß-blau bewölkten Himmel, oder es spannt sich hoffnungslos eine Leiter ins Nichts. Irgendwoher kommt ein beunruhigend undefinierbares Geräusch, als knusperte eine übergroße Ratte hinter einer Wand. Da meißelt ein Lichtkegel aus dem Dunkel einen männlichen Körper so heraus, dass von ihm nur Schultern, Rücken und die zwei überlangen Arme sichtbar sind. Wie er kopflos und spinnenfingrig die Wand abtastet, ähnelt er einem dickleibigen Käfer, der von bösen Buben in einer Streichholzschachtel gefangen, seine Fühler in der fremden Umgebung ausstreckt – wohl Gregor Samsa, der in Kafkas Erzählung erwachte und sich zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt fand.

Das elfköpfige Ensemble tanzt barfuß, unisex in dunklen Anzügen, ohne Hemd unter dem Jackett. Schon mit dem Einsetzen der Musik von Michio Woirgardt beginnt die den ganzen Tanzabend prägende Überwindung der selbstgesteuerten Bewegung durch die kräftig rhythmisierte, vorwiegend elektronische Musik. Sie sprengt Ensembleszenen, die sie noch kurz in parallelen Bewegungen geführt hat, in Individuen, deren isolierte Körperteile sich ruckartig wie neu zueinander finden sollen. Sie verpasst den Körpern elektrische Schläge, die ihnen ihre Identität austreibt und sie zuckend und zitternd zusammensinken lässt.

Phasen von beängstigender Geschwindigkeit wechseln schlagartig mit absoluter Ruhe, rasche, expressive Gestik verstummt in roboterhafter Ausdruckslosigkeit. In einer Geste der Vergeblichkeit zieht sich das Ensemble immer wieder am eigenen Revers nach oben, wie um sich und den aufrechten Gang wiederzugewinnen, doch kommt es trotz allem Nachdruck nicht vom Boden hoch, auf dem dann alle Bewegung des fremd bleibenden Körpers endet.

Es überwiegen die Ensembleszenen, darin eingestreut Zweier- und Dreier-Szenen, in denen unter teils aufwendig artistischen Verschlingungen mit immer noch einer unerwarteten Komplikation Versuche scheitern, Beziehungen aufzunehmen. Ein Paar taumelt auseinander, als wäre es mit den Köpfen zusammengestoßen, und tastet sich dann zitternd die Wand entlang, während eine Tänzerin einen Tänzer auf die Knie zwingt, den sie noch eben mit seiner Unterstützung erklommen hat.

Direkt erzählerische Elemente wie akustisch verfremdete Textstellen aus der „Verwandlung“ oder ein übergroßer, rot gepolsterter Stuhl, den Tänzerinnen auf die Bühne ziehen, erschließen sich nicht unmittelbar. Der Stuhl scheint nur gebraucht zu werden, um am Ende den Gregor Samsa-Käfer des Anfangs wie auf einem Thron von der Bühne zu entfernen.

„Verwandlung/Fremdkörper“ fesselt als atemberaubender Tanzabend, an dem sich das Ensemble nahezu rückhaltlos mit aller Kraft und ohne Scheu vor Selbstentblößung in den Tanz wirft. Diese tänzerische Kraft überstrahlt die depressive thematische Grundierung und verführt dazu, auch in widrigen Zeiten um den aufrechten Gang zu kämpfen.

Großer Beifall und Bravos für das Ensemble des TanzTheaterMünster, das die extrem anspruchsvolle, kraftraubende Choreografie der Cooperativa Maura Morales mit ihrem innovativen Bewegungsvokabular mitreißend meistert.

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