„EpicDermis“ von Maura Morales

Mehr als nur Gewebe

„EpicDermis“ von Maura Morales beim tanz nrw in Viersen

Jede Berührung geht unter die Haut, im direkten wie im sprichtwörtlichen Sinn. Das erfährt das Publikum hautnah.

Viersen, 16/05/2023

Von Swantje Kawecki

 

Wann ging dir das letzte Mal etwas unter die Haut? Wann hast du das letzte Mal ein Kribbeln auf ihr gesprüht? Gab es für dich einen Moment, in dem du nicht in der Haut einer anderen Person stecken wolltest? Wann bist du das letzte Mal durch die Stadt gelaufen und hast dir beim Anblick eines Menschen gedacht, dass Mensch nur noch aus Haut und Knochen besteht?

Am vorletzten Abend des zweiwöchigen Festivals tanz nrw 2023, zeigten die fünf Tänzer*innen Martha Gardner, Kira Metzler, Guila Russo, Dario Rigaglia, Ilario Frigione unter der choreografischen Leitung von Maura Morales und mit musikalischem Livesampling von Michio Woirgardt das Stück „EpicDermis“ in der Festhalle Viersen.

Abgeleitet von der wissenschaftlichen Bezeichnung Epidermis, aus dem griechischen „epi – über“ und „dermis – Haut“, beschäftigt sich „EpicDermis“ mit dem Menschen als Homo Hapticus: einem tastenden und fühlenden Wesen. Dabei bringt Maura Morales choreografisch anspruchsvolle Strukturen mit Installationskunst, Projektionen, Techniken des Partnering und der Akrobatik in einem bewegenden Gesamtwerk zusammen.

Sie ist unser größtes Organ – unsere Haut. Sie umhüllt unseren Körper, definiert unsere sichtbare Grenze, lässt uns unsere Umwelt wahrnehmen. Sie berührt die Luft um uns herum, unsere Kleidung, Gegenstände, uns selbst, andere Menschen. Das geschichtete Gewebe erneuert sich in einem Zyklus von etwa vier Wochen vollständig. Doch auch wenn das Material nicht dasselbe bleibt, speichert unser Körper die gemachten Erfahrungen unserer Haut.

Berührungen können mindestens so vielschichtig und komplex sein, wie es Adjektive gibt. Und so bewegen sich die Tänzer*innen in „EpicDermis“ in dieser Vielschichtigkeit zwischen Zustimmung und Ablehnung, Vertrauen und Angst, Verzweiflung und Sehnsucht, dem mit Fürsorge Getragen werden und einem körperlichen Aufdrängen fremder Körper.

Wenn Menschen sich wie Schlangen häuten würden, wäre das in etwa der Anblick, den wir als Publikum auf der Bühne in Viersen zu sehen bekommen haben. Fünf hautenge Anzüge in verschiedenen Beige- und Brauntönen hängen in der hinteren rechten Ecke von der Decke. Auf der anderen Seite fließt eine etwa ein Meter breite Stoffbahn von der Decke auf den Boden. Auch diese erinnert an eine abgeschälte Haut.

Die Tänzer*innen kommen nacheinander aus dem Bühnenvorhang und stellen sich unter die hängenden Anzüge. Sie tragen weite graue Hosen und Hemden, vermutlich aus Leinen und wie sich später noch zeigen wird, beigefarbene Unterwäsche. Die beiden männlich gelesenen Tänzer*innen sind oberkörperfrei, die drei weiblich gelesenen Tänzer*innen tragen zusätzlich einen BH aus anliegendem Stoff.

Auf den langen Stoffbahnen und an der Bühnenrückwand erscheint eine Projektion. Es sind Nahaufnahmen von sich zusammen- und auseinanderziehender nasser Haut. Zwischenzeitlich sind Hände, Lippen und eine Nase zu erkennen. Ein schmatzendes Geräusch ist zu hören.

Innerhalb der ersten Minuten schälen sich die Tänzer*innen entweder aus der oberen oder unteren Hälfte ihres Kostüms. Zwei Tänzer*innen spalten sich von der Gruppe ab, haben einen ersten Moment zu zweit. Gierig riecht der Tänzer von hinten an der Tänzerin. Diese steht verkrampft da, wendet den Kopf immer wieder in die andere Richtung ab. Sie hat die Augen geschlossen. Die Atemzüge der Performenden bilden die Geräuschkulisse. Dann bewegen sie sich schnell, und wie aus dem Nichts steht die Tänzerin mit dem Rücken gegen die vordere seitliche Bühnenwand gelehnt. Ihre Füße stehen auf den Händen des Tänzers. Wieder auf dem Boden behält das Duo seine drängende Intensität, erzeugt eine spürbare Spannung.

Die weiteren drei Tänzer*innen bleiben während dieser Zeit unter den hängenden Anzügen. Ihre Rücken beugen sich nach vorne, die Arme seitlich in einem leichten Bogen hinabreichend. Bass setzt ein, die musikalische Kulisse baut sich wieder auf. Eine insektenhafte Bewegungsqualität tritt auf. Ruckartige, krampfende Bewegungen gehen durch die Körper. Mal laufend, mal auf allen vieren den Bauch in Richtung Decke. Aus zwei Gruppen wird wieder eine. Sie bewegen sich wie ein einziger Mechanismus bestehend aus mehreren Körpern: ein Wechselspiel zwischen Begegnungen in Zweier- und Dreierkonstellationen und der gesamten Gruppe als Einheit. Ein Wechselspiel zwischen dem sich auflösenden Individuum, das mit seiner Umwelt zu etwas Größerem verschmilzt und Begegnungen der einzelnen eigenen Ichs.

In einem Moment kamen die Tänzer*innen in den Zuschauerraum und setzten sich auf freie Stühle zwischen das Publikum. Jede*r einzelne*r begann einen Monolog über ein persönliches Erlebnis in Bezug auf Berührung.

Neben mich setzte sich eine der Tänzer*innen und begann auf Englisch zu reden. Die Geschichte, die sie erzählte, prägte meine Wahrnehmung für den restlichen Verlauf des Stückes und färbte auch im Nachhinein das bisher Gesehene ein:

„The touch of his hands was spreading at my guts, switching off my brain and searching my heart. In his eyes I was a piece of meat and my flesh. Maybe it was love. He would pull me, push me, press me and I would just let go, ignoring my feelings and my opinions. The sense of freedom panic, spreading throughout my body. I wanted more; I’ve tried to find it in someone else I thought. It just needs to be wrong. To feel the same vibration, but no.

He wants my soul. I, I said no. I made resistance. I put his hands away. But in his eyes, I was a piece of meat. He beat my heart; he ate my brain. He left me shattered, dirty, humiliated, empty.“

Berührungen berühren uns emotional. „EpicDermis“ hat das Publikum in Viersen auf jeden Fall ebenfalls berührt und mit langen Standing Ovations die Tänzer*innen immer wieder zurück auf die Bühne geholt. Viele blieben auch anschließend noch zum Meet&Greet. Dabei verkündete die Kulturkuratorin der Festhalle Viersen Petra Barabesch, dass die Tanzkompanie Cooperativa Maura Morales eine dreijährige Konzeptionsförderung erhalten werde. Somit darf sich die Festhalle Viersen und weitere nationale und internationale Theaterhäuser auf kommende Produktionen von Maura Morales freuen.

 

Dieser Text entstand im Rahmen einer Kooperation mit dem Zentrum für Zeitgenössischen Tanz (ZZT) der Hochschule für Musik und Tanz Köln mit Tanzwissenschaft-Studierenden und dem Festival tanz nrw. Mit dem gemeinsamen Projekt möchten die Institutionen – zumindest temporär – eine Lücke schließen in der überregionalen Kulturberichterstattung über die freie Tanzszene in NRW.

 

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