Goecke geht nach Basel
Marco Goecke folgt dort planmäßig auf Adolphe Binder
Was sich für die einen inzwischen als gängige Praxis etabliert hat, ist für andere eine grundsätzliche Gewissensfrage. In jedem Fall aber stellt diese Möglichkeit die Kulturschaffenden vor eine schwierige Abwägung: die eigene Arbeit online aufführen und somit zeigen: wir sind da, es gibt uns noch! Schaut her, was wir hinter verschlossenen Theatertüren für Euch, unser Publikum erarbeitet haben - und nehmen die Nachteile einer solchen Praxis wie: fehlende Unmittelbarkeit, Übertragung einer künstlerischen Leistung durch ein (manchmal nicht gut funktionierendes) technisches Medium, fehlender Publikumskontakt und damit Reaktion auf das Gezeigte, in Kauf.
Oder doch lieber standhaft bleiben und auf den Tag hoffen, an dem wieder live getanzt werden kann? Wie z. B. Antoine Jully mit seiner geplanten Premiere „Alice im Wunderland“ und seiner BallettCompagnie Oldenburg, die er seit 6 Jahren erfolgreich leitet und die ihr Stammpublikum schon gefunden hat. Er hatte das Glück, seinen Abend „1,5M“ im Oktober letzten Jahres live herausbringen und mehrfach aufführen zu können. Aber wie schwer ist es, eine Produktion deren Premiere schon mehrfach verschoben wurde, spielfertig zu erhalten, die Motivation der Tänzer*innen hoch zu halten? An anderen Theatern lagen die Premierentermine ungünstiger und so haben manche Tänzer*innen die ganze Spielzeit lang - frisch engagiert - noch nicht ein einziges Mal live getanzt, das ist reell verlorene Lebenszeit! Bei einem Beruf, dessen aktive Phase nicht sehr lang ist.
Also dann doch lieber streamen und das unvollkommene Medium nutzen und die Arbeit dem Publikum virtuell präsentieren? Helge Letonja, Leiter der kleinen, freien Kompanie „Of Curious Nature“ in Bremen, geht einen interessanten Weg, indem er das kleine Format des Livestreams über Zoom nutzt und mit den (vorher angemeldeten ca. 60) Zuschauer*innen im Anschluss an seine Premiere „Préludes“ und „Songs of Love and Bones“ noch ins Gespräch kommt. Eine Möglichkeit, etwas Feedback über die Aufführung zu erhalten und lohnend für die Tänzer*innen, die auf diese Weise doch ein Stück uraufgeführt haben.
Marco Goecke, Ballettchef an der Staatsoper in Hannover hatte schon einen Abend mit drei Gastchoreografen: „Rastlos“ im November gestreamt, nun wartete man gespannt, ob er seine - auch zweimalig verschobene - abendfüllende Premiere „Der Liebhaber“ nach dem Roman von Marguerite Duras online herausbringen würde. Ende Februar war es dann soweit, der Abend wurde gestreamt. Und siehe da: die Filmtechniken entwickeln sich immer weiter, es wurde mit zwei Kameras aus verschiedenen Perspektiven aufgezeichnet und der Stream funktionierte erstaunlich gut! Es mag daran liegen, dass die Bewegungen von Marco Goecke besonders in den Solopassagen sehr gut im Nahformat ihre Wirkung entfalten: die ausgeklügelten und blitzschnellen Arm- und Oberkörperbewegungen und die intensive Mimik der Tänzer*innen konnten durch die filmische Darstellung gut nachvollzogen werden und so in ihrer Dramatik beeindrucken. Der Stream war noch den ganzen Monat lang online über die Website des Theaters anzuschauen.
Zu Ostern dann für Ballettfans eine besondere Freude: das Stuttgarter Ballett präsentierte am 1. April seine Premiere der „Beethoven-Ballette“ – ein später Beitrag zum Beethovenjahr 2020 – im Livestream und dann noch weitere vier Tage über YouTube. Meisterwerke wie „Die Große Fuge“ und das „Adagio Hammerklavier“ des holländischen Choreografen Hans van Manen und „Einssein“, eine Uraufführung des Italieners Mauro Bigonzetti kamen in einer fernsehreifen Übertragung zur Aufführung. - Doch konnte einem das Warten auf den Beginn des Streams schon etwas lang werden, wenn immer wieder der Hinweis auf den Stream und auf seinen Sponsor kam… Was sonst bei der Live-Aufführung im Theater eine - ganz analoge - freudige Erwartung des bevorstehenden Abends ist, mutiert beim Stream für die Zuschauer*innen in die bange Frage, ob die Technik des eigenen Computers wohl funktioniert und man das Ereignis auch sehen kann … Und dann: der Abend kam in vollendeter Manier getanzt über den Bildschirm! Immer wieder beeindruckend die Formensprache und der unkonventionelle Einsatz von Tanztechnik durch Hans van Manen, sowie die fantastische Dynamik in der „Große Fuge“ – Choreografie, ein Genuss es anzuschauen – auch online.
Ob mit oder ohne Stream: die Menschen wollen die Ballette und Tanzereignisse sehen. Vielleicht ist der Stream so etwas wie eine lebensrettende Methode für die Künstler*innen in Zeiten der Pandemie. Und doch müssen die Künstler*innen aufpassen, dass sie durch die Streaming-Praxis die Live-Aufführung nicht abwerten, sie scheinbar nicht mehr relevant erscheinen lassen und dadurch am Ende sich selber „abschaffen“. - Allerdings lassen sich durch ein gezieltes Benefiz-Streaming auch erstaunliche Summen erzielen. Das zeigte Anfang April ein von der Sparkasse Freiburg initiiertes „Benefizival“, eine Veranstaltung von mehreren Musik-, Tanz- und Bühnenprogrammen - hervorragend präsentiert vom E-Werk Freiburg - zugunsten der Freiburger Künstler*innen.
Die Gesellschaft muss sich fragen, wie viel ihr die Kultur wert ist und ihren Erhalt massiv unterstützen. Die Kultur existiert - noch! - und kann, ja soll der Gesellschaft wichtige Impulse geben. Hoffen wir, dass die Förderprogramme greifen und wir nach der Pandemie nicht ein Land ohne Kultur geworden sind.
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