„La Bayadère“ von Marius Petipa. Tanz: Marian Walter

„La Bayadère“ von Marius Petipa. Tanz: Marian Walter

Wenig Glanz im Tanz

Petipas „La Bayadère“ in der Rekonstruktion von Ratmansky beim Staatsballett Berlin

Öhmann wählte für seine erste Premiere an der Staatsoper ein Ballett, das klassischer nicht sein könnte mit opulent ausgestatteter Szenerie, wunderschönen Kostümen: Viel Glanz beim Drumherum, aber zu wenig Delikatesse beim Tanz.

Berlin, 21/01/2019

Es war klar, dass Johannes Öhmann zu Beginn seiner Intendanz beim Staatsballett Berlin (erst mit Beginn der Spielzeit 2019/20 kommt auch Sasha Waltz noch hinzu) all den Unkenrufern und Kritikastern, die da prophezeiten, das Staatsballett falle mit den beiden Neuen der Bedeutungslosigkeit anheim, den Wind aus den Segeln nehmen musste. Was gab es da doch für ein Krakeele: Ob überhaupt noch etwas übrig bleibe von der bisher wie ein Heiligtum gehüteten strengen Klassik? Würde jetzt nicht alles zunichte gemacht, was über Jahrzehnte hinweg mühsam aufgebaut worden war? War nicht schon Nacho Duato Zumutung genug?

All diese Befürchtungen hat Öhmann nun konterkariert, indem er für seine erste Premiere an der Staatsoper Unter den Linden ein Ballett auswählte, das klassischer und musealer nicht sein könnte: „La Bayadère“. Aber Öhmann entschied sich nicht etwa für die Malakhov-Version aus 1999 oder die Nurejew-Fassung aus 1992, geschweige denn für die Inszenierung Natalia Makarovas aus 1980. Es musste schon etwas ganz Besonderes sein, etwas, was die Aufmerksamkeit der Ballettszene aus aller Welt auf sich zieht. Und so beauftragte Öhmann Alexej Ratmansky mit der Rekonstruktion der Originalversion der „Bayadère“ von Marius Petipa aus 1877 auf der Basis der Notationen von Nikolai Grigorjewitsch Sergejew aus 1890. Mit solchen Rekonstruktionen hat sich Ratmansky in den vergangenen Jahren einen Namen gemacht: 2007 entstand „Le Corsaire“ für das Bolshoi Ballett, 2010 „Don Quixote“ für Het Nationale Ballet, 2014 „Paquita“ und 2015 „Dornröschen“ für das American Ballet Theatre, 2016 „Schwanensee“ für das Zürich Ballett und das Ballett der Mailänder Scala, 2018 „Harlequinade“ für das American Ballet Theatre. Nun also „La Bayadère“ für das Staatsballett Berlin.

Öhmanns Rechnung ist aufgegangen: Das Berliner Publikum rannte der Staatsoper Unter den Linden die Türen ein, alle neun Vorstellungen waren in Windeseile restlos ausverkauft. Niemand schimpfte mehr auf die neue Intendanz, auch die Kompanie probte nicht mehr den Aufstand. Wozu auch? Mit zwei Cranko-Choreografien („Onegin“ und „Romeo und Julia“), „La Sylphide“ und Petipas unvermeidlichem „Nussknacker“ stehen ohnehin vier klassische Schwergewichte auf dem Spielplan 2018/19.

„La Bayadère“, das ist die in Indien angesiedelte Geschichte von der unglücklichen Liebe zwischen der schönen Tempeltänzerin Nikia und dem edlen Krieger Solor, der jedoch bereits der Tochter des Maharadschas Gamsatti versprochen ist. Nikia wird ihrerseits vom Herrscher des Tempels, dem Großbrahmanen, verehrt und begehrt (solche Liebesbeziehungen waren zu damaliger Zeit durchaus üblich), weist diesen aber brüsk zurück. Und es kommt, wie es kommen muss: Als Nikia von der geplanten Vermählung erfährt, versucht sie in ihrer Verzweiflung, Gamsatti zu erdolchen, was diese dazu veranlasst, ihrerseits Nikia den Tod zu wünschen. Kurzerhand wird eine Giftschlange in dem Blumenkorb versteckt, mit dem Nikia anlässlich vor Gamsatti und Solor anlässlich deren Verlobung tanzen muss. Die Schlange beißt zu, und Nikia stirbt, nachdem sie das Gegengift, das ihr der Großbrahmane noch aufdrängen will, verschmäht. Lieber tot sein als zusehen müssen, wie der Geliebte mit der anderen lebt. Solor ist ob dieses Verlustes untröstlich und betäubt sich mit Opium. In seinen rauschhaften Träumen begegnet er Nikia im Reich der Schatten, wo – ähnlich wie die Wilis in „Giselle“ – all die Mädchenseelen, deren Liebe unerfüllt blieb, herumgeistern. Als Solor wieder erwacht, erinnert ihn Gamsatti an seine Pflicht. Aber die Hochzeit steht unter einem ungünstigen Stern, die Götter zürnen und lassen den Tempel, in dem gefeiert wird, einstürzen, so dass er die Hochzeitsgesellschaft unter sich begräbt. Im Jenseits sind Nikia und Solor wieder vereint.

Man durfte gespannt sein, was Ratmansky nun aus den alten auf kyrillisch notierten Aufzeichnungen herauslas und wie sich die Urfassung der „Bayadère“ tänzerisch präsentiert. Am auffälligsten sind hier sicher die vielen pantomimischen Szenen, insbesondere in den ersten zwei Akten. In prunkvoller Kulisse (Bühnenbild und Kostüme: Jérôme Kaplan) wird ganz viel gestikuliert und gemimt. Rein optisch fehlt es an nichts: Die Gewänder sind üppig und voller Pracht, ein ausgestopfter Tiger am Spieß wird herumgetragen, sogar ein Pappmaché-Elefant in Lebensgröße darf auf die Bühne.

Getanzt wird jedoch wenig. Lediglich der Fakir (mit langem grauem Rauschebart mehr ein Gnom als ein Tempelwächter) hat zusammen mit seinen Kumpanen einen wirbeligen Auftritt, und ebenso Nikia mit einem ersten Solo, bei dem sie ihre Extraklasse als Tempeltänzerin unter Beweis stellt. Erst in der 3. Szene am Schluss des 2. Aktes, wenn die Feierlichkeiten zu Ehren des Goldenen Gottes (der in der Petipa-Fassung anders als in den Inszenierungen des 20. Jahrhunderts keine eigene Glanzrolle hat) beginnen, bietet sich Gelegenheit für Ensembles und kleine Soli (großes Divertissement, Tanz der Skalvinnen, Tanz der Fächer, Tanz der Papageien, Pas de quatre, Pas de trois, Danse infernale), die jedoch nie die Hauptpersonen betreffen. Mit einer Ausnahme: Nikias großes Solo am Schluss des 2. Aktes, dieser melancholisch-schmerzerfüllte Tanz anlässlich des Verlustes des Geliebten, und der Tanz mit dem Blumenkorb, in dem sich die Giftschlange versteckt.

Die beiden ersten Akte mit ihrem vielen Pantomimen sind ganz darauf ausgerichtet, den dritten und vierten vorzubereiten – diese sind der eigentliche Höhepunkt des Balletts: Die 5. Szene, der berühmte Schattenakt, und die 7. Szene bzw. der 4. Akt, die Hochzeit von Gamsatti und Solor bzw. der Zusammenbruch des Tempels. Es scheint, als habe Petipa genau das beabsichtigt: Eine sich immer weiter steigernde Klimax bis zu den großen Auftritten der 32 Tänzerinnen im Schattenakt und den virtuosen Soli von Solor und Gamsatti bei den Hochzeitsfeierlichkeiten, wo – anders als in den heutigen Inszenierungen – Nikia wie ein entfesselter Racheengel durch die Szenerie huscht.

In der Vorstellung am 18. Januar 2019 tanzte Polina Semionova als Nikia mit Marian Walter als Solor anstelle des ursprünglich vorgesehenen Alejandro Virelles. Die Semionova ist sicher eine über jeden Zweifel erhabene Ballerina, an diesem Abend war sie jedoch nicht in Bestform, auch wenn ihr das erste Solo als Tempeltänzerin (diese fließenden Arme!!) und auch der Tanz vor Gamsatti und Solor absolut berückend gelangen (der ganze Körper, die ganze Frau eine Anklage und ein Schmerz!). Marian Walter, dem gerade erst zum Kammertänzer beförderten Ersten Solotänzer, fehlte es in seinen großen Soli an Strahlkraft und Sprunggewalt. Gerade nachdem er in den ersten Szenen überhaupt nichts zu tanzen hatte, müssen die Sprünge beim Grand Pas de deux explosionsartig aus ihm herausbrechen – davon konnte jedoch keine Rede sein. Auch die Ensembles gelangen nicht so akkurat, wie man es gerne gesehen hätte. Das erscheint umso wichtiger, wenn gerade nicht die höchsten Extensions gefragt sind, sondern viel halbe Spitze und vor allem absoluter Gleichklang in der Bewegung bei feinster Delikatesse der Pose. Da blieben viele Wünsche offen. Lediglich Yolanda Correa entwickelte in ihrem Pas de deux mit Solor ein wenig Glanz. Auch war Vladislav Marinov ein überaus dämonisch-sprungfreudiger Fakir, und Arshak Ghalumyan ein gebieterischer Großbrahmane.

Die größte Enttäuschung war jedoch der Schattenakt. Nach all dem Pomp der ersten vier Szenen mit dem Tschingderassabumm des Orchesters muss hier eine magische, geheimnisvolle Atmosphäre entstehen – sowohl durch den Tanz wie auch durch die Musik. Beides misslang gründlich. Die Tänzerinnen spulten die Penchés wie Aufziehpuppen mechanisch ab, ohne Hingabe und ohne jede Poesie. Die üppig besetzte Staatskapelle Berlin unter Leitung des jungen Dirigenten Victorien Vanoosten spielte das Adagio, als sei's ein Marsch – da blieb vom Zauber der Szenerie nichts mehr übrig, rein gar nichts. Was wünschte man sich da einen André Presser in den Orchestergraben zurück, der es wie kein zweiter vermochte, sowohl die Musiker gerade bei der wenig anspruchsvollen Partitur eines Ludwig Minkus zu besonderen Leistungen zu motivieren, als auch den TänzerInnen auf der Bühne einen Klangteppich unter die Füße zu legen, der sie regelrecht schweben ließ. Kein Wunder, dass der sonst übliche Szenenapplaus ausblieb.

Besonders störend: die Umbaupausen vor jeder Szene (extrem lang ausgerechnet nach dem Schattenakt). Jedesmal senkt sich ein schwarzer Vorhang herab, und das Orchester schweigt. Vor lauter Ratlosigkeit beginnt dann das Publikum zu schwatzen – und der vorher mühsam aufgebaute Zauber ist dahin.

Was bleibt als Resümee? Viel Pomp, viel Kulissengedöns, wunderschöne Kostüme, aber wenig Glanz im Tanz. Museales Ballett eben. Man kann das unter historischen Gesichtspunkten durchaus goutieren – ob es jedoch wirklich notwendig ist, so etwas heute noch mit unsagbar viel (vor allem auch finanziellem) Aufwand im 21. Jahrhundert auf die Bühne zu bringen, darüber lässt sich trefflich streiten. Kann man machen, muss man nicht.
 

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