So unterschiedlich, so gleich
Gastspiel „Shift“ im Ludwigshafener Pfalzbau mit Duos von und mit Peter Chu
Das Ballet National de Marseille (BNM) verdankt seine ruhmreiche Geschichte dem Gründer Roland Petit. In den 70er- und 80er-Jahren mischte er – ohne jede Berührungsangst mit dem Showbusiness – das ehrwürdige Genre des klassischen Balletts kräftig auf. Tatsächlich gastierte sein Ensemble in dieser Zeit mehrfach im Pfalzbau, wo die Präsentation hochkarätiger Tanzgastspiele seit mittlerweile fast 50 Jahren zur Kernkompetenz der Programmgestaltung gehört. Nanine Linning, ehemalige Leiterin der Heidelberger Tanzsparte und aktuelle Tanz-Kuratorin für die Ludwigshafener Festspiele, ermöglichte zur Eröffnung die aktuelle Begegnung mit der Kompanie aus Marseille.
In die großen künstlerischen Fußstapfen von Roland Petit zu treten, war für die Nachfolger*innen (ab 1998) naturgemäß schwierig. Das änderte sich erst 2015, als die beiden Choreografen Emio Greco und Pieter C. Scholten zusätzlich zu ihrer Arbeit am Internationalen Tanzzentrum ICKamsterdam auch die Leitung des BNM übernahmen. In ihrer Zusammenarbeit haben die beiden eine höchst anspruchsvolle, eigenständige Tanzsprache entwickelt, die auch im Zentrum des Gastspiels in Ludwigshafen stand.
Wenn Greco und Scholten vom „corps de ballet“ sprechen, dann meinen sie nicht die Gruppe im Hintergrund, die sich – wie etwa beim Ensemble der Pariser Oper – durch handverlesene Homogenität für hübsche, klassische Gruppierungen empfiehlt. Die 18 Tänzer*innen, die auf der Pfalzbau-Bühne zu sehen waren, schienen vielmehr auf ihre Individualität hin gecastet worden zu sein – mit möglichst vielen signifikanten Unterschieden in Gestalt und Ausdruck. All diese eigenständigen Körper bündeln Greco und Scholten in langen, anspruchsvollen, synchronen Passagen als einzigen Tanzkörper. Der Titel des Eingangsstücks „Extremalism“ gibt einen Hinweis auf die Zusammensetzung des Bewegungsmaterials aus einem weiten Spannungsfeld: Minimalismus schwingt ebenso darin mit wie Extreme, und ab und zu blitzen Zitate aus dem Vokabular des klassischen Balletts auf. Aus der großen Gesamtheit des eindrucksvollen Tanzkörpers brechen einzelne oder mehrere Individuen aus und erzählen ihre Geschichte als konkreten Beitrag zur sozialen Befindlichkeit.
„Extremalism“ ist sozusagen eine Best-of-Choreografie, die im thematischen Rahmen von Gestern – Heute – Morgen unterschiedliche Aufführungsvarianten erlaubt. Für das Gestern reichte am Anfang das Aufblitzen einer archaischen Gestalt in einer eindrucksvollen Zopfmaske aus, den Rest besorgte die zwischen Drama und Minimal wogende Komposition von Valgeir Sigurôsson. Im Heute gelangen den Choreografen eindrucksvolle Bilder von den Spannungen innerhalb der Gesellschaft – Migration oder #MeToo inbegriffen. Für ihre Vision vom solidarischen Morgen gestatten Greco und Scholten ihren Tänzer*innen mehr körperliche Intuition und befreiten sie dafür aus der Unisex-Uniform farbloser Kleider. In hautfarbenen Dessous wirkten sie umso individueller, verletzlicher, zutiefst menschlich.
Ravels „Bolero“ bildete den attraktiven Abschluss des Abends. Die vielfach in Tanz umgesetzte Musik verfehlt nie ihre dramatische Wirkung; Greco und Scholten verlegten die sich bis ins Unerträgliche aufbauende Spannung in die Körper der Tänzer*innen selbst. Wieder war die gesamte Kompanie in Unisex-Kleidern beteiligt, die einem Vortänzer folgte – in energetisch hoch geladenem Unisono der Bewegungen. Fast wollte das begeisterte Publikum in seinem Jubelbedürfnis den mit-choreografierten Spannungsabbau bis hin zu einem leisen Rückzug gar nicht abwarten.
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