„Time takes the Time Time takes“ von Guy Nader und Maria Campos
„Time takes the Time Time takes“ von Guy Nader und Maria Campos

Die Unendlichkeit der Zeit

Das TANZtheater International in Hannover hat begonnen und zeigt neben den Arbeiten etablierter Künstler auch die Entwicklungen der Nachwuchschoreografen der letzten Jahre

Für den Höhepunkt des ersten Festival-Wochnendes lassen Guy Nader und Maria Campos die Zeit vertanzen.

Hannover, 05/09/2017

In dem Format „Think Big“ – das Künstlerresidenz-Programm vom Ballett der Staatsoper Hannover und TANZtheater International – durften junge Choreografen bisher mit einer größeren Gruppe exklusiv eine Uraufführung fürs Festival schaffen. Diesmal gab es bei TANZtheater International in Hannover das „Update“, in dem sich drei ehemalige Teilnehmer mit aktuellen Arbeiten zeigen. Eine gute Idee.

Maura Morales kann mit einer Kurzfassung der „Phädra“ punkten, bei der sich eine reife Frau unter den Augen ihres Mannes in den attraktiven Stiefsohn verliebt. Die verbotene Annäherung, seine Zurückweisung, ihr Verrat werden in expressiver, manchmal zu karikaturaler Mimik und Gestik nachgespielt. Dass der Sohn eher ein Traumtänzer am Seil ist und böse abstürzt, ist schön erfunden. Das Bewegungspathos ist nicht antikisch, aber vor allem nicht gegenwartsnah.

Die anderen beiden Bigthinker bringen eher abstrakte Soli. Yaron Shamir testet mit Schutzbrille in einer Art Rollstuhl unter Scheinwerfern alle Effekte variierender Bestrahlung aus. Das erinnert zunächst an Kafkas „Metamorphose“, wird von ihm aber, sobald aus dem Wagen gestiegen, in chaplineskem Trippelschritt clownesk verspielt.

Shumpei Nemoto kann durch raffinierten Kameraeinsatz die Hand nach seinem eigenen Leinwand-Ich ausstrecken, wird dabei wiederum gefilmt, so dass sich eine am Ende bis zu vierfache Persönlichkeit einstellt, die durch leicht zeitversetzte Projektion miteinander agiert. Das spielt gekonnt mit unserer Wahrnehmung. Man fragt sich, wie daraus weitere Stücke entstehen könnten. Auf eine Think-Big-Gruppe übertragen, könnte das beispielsweise zu einem spannenden Wimmelbild des Lebens in Paralleluniversen und unterschiedlichen Lebensgeschwindigkeiten werden.

Höhepunkt des ersten Festival-Wochenendes waren aber Guy Nader und Maria Campos: Das libanesisch-spanische Choreografenpaar lässt in „Time takes the Time Time takes“ die Zeit vertanzen. Die erste Tänzerin schwingt ihren Arm und dreht dabei den Körper wie jene Pendeluhren, bei denen man auch die Feder und die sich drehende Spirale sieht. Als die nächste dazukommt, muss die erste rechtzeitig den Kopf wegziehen, damit sie der Pendelarm der anderen nicht erwischt. Entsprechend anspruchsvoll wird es, als die Bewegungen der fünf Tänzer noch komplizierter ineinandergreifen. Es ist eine „prästabilierte Harmonie“, wie der hannoversche Universalgelehrte Leibniz sagen würde, der einst durch die Herrenhäuser-Gärten spazierte, in deren Orangerie das Festival seine wichtigste Spielstätte hat.

Die Choreografen entwerfen hier ein unablässiges Kontinuum im Takt gestanzter Bewegungen, die öfter ins Gymnastische ausgreifen, komplizierte Körper-Wippen und -Schaukeln integrieren und den Partner auch mal am langen Arm oder frei fliegen lassen, bevor er taktgenau aufgefangen wird. Die Zeit hat einen immer im Griff, auch wenn man abzuheben scheint. Und wie in der von Leibniz behaupteten besten aller möglichen Weltordnungen gibt es auch keine Störung, keinen Crash, alles passt auch bei gegenläufigen Bewegungen und solchen Ausflügen am Ende wieder wunderbar zusammen. In der Mitte und am Ende fächern sich die Tänzer auf zu einem halbrunden Speichenrad. Hand in Hand, einer stehend, zwei zu seinen Seiten hängend, einer immer grade rechts am Weglaufen, um links wieder nachzuschieben, so dass sich dieses Menschenrad über die Bühne zu drehen scheint, Sinnbild der Unendlichkeit der Zeit, selbst wenn die Menschen kommen und gehen. Es ist schon beeindruckend, wie phantasievoll, körpernah und präzise das Phänomen Zeit hier durchbuchstabiert wird.

Ein Thema hat sich auch der israelische Choreograf Roy Assaf gestellt. In „Boys“ sitzen fünf halbnackte Jungs sehr verschiedenen Typs erstmal singend am Bühnenrand, nachher werfen sie sich in Positionen berühmter Skulpturen oder Werbe-Models, posen, wrestlen oder schreien wie Krieger. Nicht viel Neues an der Männerfront. Erotik kommt kurz auf, wenn die vier hintereinander stehen und jeweils dem Vordermann die Shorts aufknöpfen. Mit einem kessen Blick ins Publikum wird der Reißverschluss wieder geschlossen. Männerrituale. Auf allen Vieren, schleichend wie Tiger, lassen die Tänzer ihre Muskeln glänzen. Zu Wagners „Parsifal“ verschränken sich die Arme wie zu einem Abendmahl im Revuestil. Über den tastenden Füßen der Liegenden breitet sich zuletzt der Vierte wie der Gekreuzigte aus. Vom Band tönt einer von Freiheit und Abenteuer. Assaf bleibt zu sehr in Zitaten stecken, sein Männerbild ist ziemlich eindimensional, der Erkenntniswert gering.

Provokanter geht am selben Abend der Israeli Rotem Tashach vor, zumindest inhaltlich. In seiner unablässigen, comedianartig abgespulten Plauderei „It’s all good“ vergleicht er eingeblendete Bilder aus Tanzproduktionen mit denen aus Kunstgeschichte („Das Floß der Medusa“) und Wirklichkeit: ein kenterndes Flüchtlingsboot. Einige Gesten hüpft er kurz vor, ansonsten bleibt’s beim Vortrag. Das ist also eher ein Diskurs über Tanztheater als Tanz. Nun ist es freilich einfach, künstlerisches Bemühen um soziale, politische, ja sei es auch nur menschliche Relevanz als zynisch zu denunzieren, nur weil die Ausführenden wie die Zuschauer sicher im Theater spielen und sitzen. Aber aus dem Dilemma kommt natürlich auch Tashach nicht heraus, zumal er mit der schwachen Pointe schließt, dass er die Zuschauer zum Mittanzen auf die Bühne einlädt. Die könnten sich angesichts einer so einfältigen Welterlösungsstrategie, Handeln statt Gucken, auch vorgeführt vorkommen. Da schlägt Tashachs kabarettistischer Zynismus auf ihn zurück.

 

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