Auf neuen Wegen
Bettina Wagner-Bergelt verlässt das Bayerische Staatsballett
Sirra traf ich auf einem Sommerfest mit ihrer Mutter. Ihre Schwester Adji tanzt professionell, und so sprachen wir bald über Ballett. Ich sagte: „Jetzt kommt auch wieder ‚Heinrich tanzt‘.“ Sirra: „Ja, das ist gut!“ – „Wie weißt du das?“ – „Ich hab´ da letztes Jahr mitgemacht.“ – „Und was war daran so gut?“ Sie erzählte: „Wir haben uns viel besser kennengelernt als vorher. Ich wusste ja nicht, wie nett auch die in den Parallelklassen sind. Jetzt kennen wir alle viel mehr andere, mit denen es schön ist, mal was zu machen.“ Vor mir stand mit leuchtenden Augen die Bestätigung des Konzepts von Bettina Wagner-Bergelt, das dem Projekt „Heinrich tanzt“ pädagogische Effekte zuschreibt, die vor allem in der gründlichen Sensibilisierung der mitwirkenden Schüler liegen. Mit erneuertem Interesse ging ich in die Muffathalle.
Dort fand „Heinrich tanzt IV“ statt. Über hundert Schüler des Heinrich-Heine-Gymnasiums hatten zum vierten Mal vier Wochen lang statt des normalen Unterrichts unter Anleitung von Tänzern und Pädagogen ein eigenes Stück erarbeitet. Jetzt sah man in der Mitte des Rechtecks, um das auf allen Seiten Zuschauer saßen, 25 große Kartons stehen. Denen entstiegen Jungen und Mädchen und spielten darauf mit anderen die Rhythmusinstrumente des auflärmenden Sounds nach. Aus den Ecken kamen weitere, imitierten die Bläser, verschoben die Kartons zum Kreis, zur Diagonale, verschwanden mit ihnen rasend schnell. Und Stille. Langsam gingen zwei Mädchenpaare mit rieselndem Sand aneinander vorbei. Zwei Linien aus Sand blieben, schienen einen Weg vorzuschreiben, den tänzerische Schritte dann verwischten. Ein Junge kündigte das Thema „Fremde Nähe“ an und nahm zum Publikum Kontakt auf, indem er mit zwei Sätzen den 7/8-Takt erklärte: „Das ist die fremde Nähe.“ Und: „Komm mir jetzt nicht zu nahe!“ Auf der Bühne wurden diese Sätze im Chor übernommen, und unschwer war zu merken: Hier geht es um Integration.
Wieder brandete Rockmusik auf, die erst eine kleinere Gruppe in Bewegung umsetzte, ehe aus anderen Ecken alle anderen hinzukamen und, in unterschiedliche Sektionen aufgeteilt, tanzend die Fläche ausfüllten, sodass der Klang als wogende Menschenwolke sichtbar schien. Alle trugen schwarze Hosen und weiße Hemden, bauten eine Karton-Diagonale, schafften alles im Höchsttempo, ohne zusammenzustoßen. Das musste trainiert sein, da mussten sie Nähe zulassen, das Unangenehme daran überwinden und verändern. Sprünge über die Kartons oder an ihnen entlang sowie Flick-Flacks und andere Highlights des Turnunterrichts sorgten für Rhythmuswechsel. Sowohl die Koordination so vieler Kinder beim Durchlaufen klarer Formationen als auch ihre Feinfühligkeit im Umgang mit den Kartons, in denen andere kauerten, beeindruckten. „Was soll man sich dabei denken?“ war die Frage. Jedenfalls mehr als bei dem Ballonschwertfisch, den einer stoisch herumtrug.
Alle sitzen dann um das Rechteck, das ein Mädchen, sich den Puls fühlend, durchquert. Es folgen 20 gleichzeitige Duette, bei denen es auf Timing und Gegengewicht ankommt, um nicht zu fallen oder zusammenzuknallen. Die Duos münden in ein Tutti, aus dem sich die Frage erhebt: „Was ist eigentlich ein Held?“ Dann: „Ich will kein Held sein“ und „Was muss man dafür tun?“ In Slow Motion sieht man den Moonwalk und neu formierte Tutti, dann sind alle weg. Nach Beleuchtungswechsel zu warmem Licht schieben Reihen von Kindern aus einer Ecke Kartonreihen, die zu einem Pfeil zulaufen, an dessen Spitze zur Harmonie einer akustischen Gitarre ein japanisches Mädchen ein reflektierendes Lied singt: „We can be heroes for just a day.“ Zu einem weiteren langsamen Lied tanzen alle als Paare, drehen sich mit erhobenen Armen. Das springt über aufs Publikum, das nun mittanzt, und daraus entspringt die Frage, was fremde Nähe eigentlich sei. Im Dialog war beispielsweise zu hören, man vertraue sich in der Familie nicht mehr. Man bespreche etwas lieber mit Freunden, wenn man sie habe. „Allerdings gibt es auch Flüchtlingsheime. Aber das Fremde macht auch das Leben reizvoll.“ Von selbst gebauten Pyramiden bekundeten die Schüler ihre Lebenseinstellung: „Küsse – ja! Aber Schüsse – nein, auf keinen Fall!“ Die musikalischen Beiträge, hier Querflöte und vier Blechbläser, beeindruckten als Teil der Gemeinschaftsleistung, bis hin zum Sologesang: „Ich brauch was zum Träumen…“ Das vermittelte die so vielschichtige wie abgerundete Show. „Wir sind dann Helden, an jedem Tag.“
Wie toll haben hier 14- oder 15-jährige Jungen und Mädchen zu gleichberechtigter Arbeit zusammengefunden, wie waren sie außer Atem, wie human ihr Theaterstück als Ergebnis des gemeinsamen Ausprobierens von Tanz! Es wäre schön, wenn Schüler auch künftig einmal in ihrer Schulzeit diese besondere Gelegenheit hätten, und es steht unserer Gesellschaft gut zu Gesicht, sie ihnen zu bieten.
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