Ein Freigeist hat Abschied von der Bühne genommen: Sylvie Guillem

Letzter Auftritt in Europa im niederösterreichischen St. Pölten

Sylvie Guillem wurde zum Modell der modernen Ballerina, die nahezu jede stilistische Prägung entstehen, im nächsten Moment aber vollständig zergehen lassen kann.

St. Pölten, 05/12/2015

Abschied in Europa, in St. Pölten, mit zeitgenössischem Tanz: Im September war sie vier Abende lang mit ihrem Programm „Life in Progress“ und drei Tänzerkollegen (in Werken von Khan, Forsythe, Maliphant und Ek) in Paris zu sehen gewesen. Der Stadt, in der Sylvie Guillems ebenso großartige wie ungewöhnliche Karriere ihren Ausgangspunkt genommen hat.

Lädt Benjamin Millepied, der Chef des Pariser Balletts, sie gar nicht zum Abschied ins Palais Garnier? Bleibt die Türe zu, nachdem sie als junger, von Rudolf Nurejew geförderter Star 1989, aus Pariser Sicht dreist, beschlossen hatte, zu kündigen, weil man sie den mehr und mehr werdenden Anfragen für Gastauftritte nicht in dem Maß nachkommen lassen wollte, wie Sylvie wollte. Sie ging aus freien Stücken. Ein Eklat. London nahm sie als ständigen Gast freudvoll auf, um bald zu erkennen, wie es Anthony Dowell in dem bemerkenswerten, zwei Jahre alten BBC-Porträt „The culture show: Sylvie Guillem – Force of Nature.“ noch heute überrascht formuliert, dass sie sich eine „Mademoiselle Non“ eingehandelt hatten. Sie entschied, was sie tanzte.

Ungewöhnlich in der hierarchischen Ballettwelt. Allerdings das, was wir bekamen, Dowell sinngemäß, war herausragend. Erlauben kann sich so etwas nur, wer auch das scheinbar unverletzbare Rüstzeug dazu hat. Und Guillem, dieses Jahr 50 geworden, erzählt in der Doku, die ihr Engagement als Tier– und Umweltschützerin ins Zentrum rückt, dass sie kaum verletzt war, viel Glück mit ihrem Körper, ihrer Statur und ihrer Kraft hatte. Und offenbar ständig auf der Suche war und ist nach Neuem, Unerprobten. Nach all den großen Rollen des klassischen Ballerinen-Repertoires und Werken von Tudor, Robbins, Balanchine und Forsythe tauchte sie ein in die Welt des zeitgenössischen Tanzes und damit auch in die des Flows. Sie wurde zur atemberaubenden, kreativen Partnerin für Choreografen wie Russell Maliphant, Akram Khan und Mats Ek. Die konnten nicht anders als sich zu ergötzen an ihren ungewöhnlichen physischen Möglichkeiten, aber auch an ihrer Lust auf Komik. Ek ließ sie nicht nur in dem berührenden Solo „Bye“, das im Festspielhaus St. Pölten erneut zu sehen war, ein ganzes Tanzleben (mit Beethoven) aus den unendlich scheinenden Gliedmaßen zaubern, Jahre zuvor hatte er mit Guillem und Niklas Ek das Verhältnis zweier Menschen nahezu surreal als Film mit dem Titel „Smoke“ (1995) entworfen.

Die Guillem wurde zum Modell der modernen Ballerina, die nahezu jede stilistische Prägung entstehen, im nächsten Moment aber vollständig zergehen lassen kann. Eine sehr freie, ungebundene Tänzerin im Körper einer anfangs als Gymnastin trainierten Gestalt.

Sylvie Guillem und Wien: Diese nur wenige Vorstellungen umfassende Zeit nahm ihren Lauf durch den Wiener Ballettchef Gerhard Brunner und Rudolf Nurejew, der, bereits in Paris, seine „Raymonda“ 1985 auch mit dem Wiener Staatsballett herausbrachte und einige seiner Tänzerinnen und Tänzer als Gäste in seinen Inszenierungen präsentierte: Blutjung erschienen da unter Anderen Manuel Legris, Laurent Hilaire, Isabelle Guérin, Elisabeth Platel und Sylvie Guillem. Ein Jahr später hypnotisierte sie im Theater an der Wien ihr Publikum in Maurice Béjarts „Mouvement – Rythme – Etude“ zu Pierre Henrys gleichnamiger Musik.

Das Festspielhaus St. Pölten hatte kurz nach seiner Eröffnung 1997 Guillem auf seine Wunschliste gesetzt. Ein Gastspiel war damals jedoch unerschwinglich. Erst der Eintritt in die künstlerische Tanzgegenwart und ihre Verbindung mit dem Londoner Tanzhaus Sadler’s Wells scheint sie leistbar gemacht zu haben. Drei Mal war sie in den letzten Jahren Gast in St. Pölten, kaum eine halbe Stunde Bahnfahrt entfernt von der Hauptstadt.

Dort verabschiedete nun die künstlerische Leiterin Brigitte Fürle eine ungemein sympathische Tänzerin mit einem Orchideen-Bouquet. Ein Freigeist voll des Willens nach Perfektionismus, großer Entscheidungskraft und betörender Natürlichkeit verneigte sich da. Applaus brandete noch einmal auf für eine der spannendsten Tänzerinnen unserer Zeit, auf jeden Fall für die international bekannteste französische Ballerina zur letzten Jahrhundertwende. Der Hausherrin zuvor gekommen waren asiatische Gäste, die am Bühnenrand einen Blumenstrauß an Guillem gereicht hatten. Und auch die Japaner empfangen ihre Guillem demnächst. 39 Jahre war sie weltweit auf der Bühne, seit 34 Jahren immer wieder in Japan. Die bereits erschienene Jänner-Ausgabe des formidablen Tokyo Dance Magazine widmet ihr den Großteil des dicken Heftes.
 

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