„Giselle“ von Akram Khan. Tanz: Stina Quagebeur, Jeffrey Cirio

„Giselle“ von Akram Khan. Tanz: Stina Quagebeur, Jeffrey Cirio

Die Wand oder „Giselle“

Das English National Ballet im Festspielhaus St. Pölten mit Akram Khans vielbeachteter „Giselle“-Inszenierung

Die Dramatik des Geschehens liegt in der Lautstärke und in temporeichen, auch akrobatischen Auftritten. Selbst in den Duo-Momenten von Giselle und Albrecht weht Kühle von der Bühne. Wie perfektioniertes Showbiz.

St. Pölten, 28/02/2023

Akram Khan war ein stupender Tänzer, vom indischen Stil des virtuosen Kathak geprägt und vom westlichen zeitgenössischen Tanz beeinflusst. Mit großformatigen Inszenierungen, die stets ihn mit unterschiedlichen prominenten Gästen auf elektrisierende Weise zeigten, packte und packt er Themen an, die auf einer zweiten Ebene, weniger über die Bühneninszenierung, auch gesellschaftspolitisch bewegen können. Seine Shows, und als eine solche lässt sich auch seine „Giselle“ bezeichnen, die er im Auftrag des English National Ballet (ENB) 2016 in Manchester herausgebracht hat, können laut sein. (Dieses Mal wurden sogar Ohrenschützer verteilt.) Die Events sind großformatig, temporeich und muten wie ein Spiegel unserer (wieder hektischen) Wirklichkeit an, mit Verweisen auf Geschichten und altes Material. Sie sind vor großem Publikum erfolgreich und erreichen vermutlich auch neue, junge Besucher*innen, die möglicherweise, später einmal, der „alten Giselle“ auf die Schliche kommen wollen und das Dank Video und Youtube auch tun können.

Im Fall des zweitägigen Gastspiels des English National Ballet im Festspielhaus St. Pölten (mit zwei Besetzungen) tauchen rudimentär Erinnerungsmomente an die tradierte romantisch-klassische Aufführungstradition der Liebes-und Betrugs-Tragödie „Giselle“ (uraufgeführt in Paris, 1841) auf: Ja darf der ballettfremde Khan denn das? Und gleichermaßen erinnert man sich an Mats Eks „Überraschung“, die seine neugestaltete „Giselle“ (1982) der Ballettwelt bescherte. Heute ein moderner Klassiker, der aber auch deswegen, quasi dialogisch, funktioniert, weil es weiterhin auf Bühnen ein tradiertes „Original“ gibt, das auch live zu sehen ist. Haben wir doch inzwischen begriffen, dass im Fall der Tanzwelt die Choreografie die Partitur ist, die es zu behalten gilt, aber Alternativen natürlich gefragt sind. Die ehemalige Tänzerin und Direktorin des ENB, Tamara Rojo, nahm Khan an der Hand, wie der Choreograf der New York Times 2022 erzählte, und führte ihn in die (oft erprobte) „Giselle“-Version von Mary Skeaping ein, die einst auch Eingang in das Repertoire des English National Ballet gefunden hatte. Rojo wollte sich mit der Neufassung für ihr ENB, der kleinen Schwester des Londoner Royal Ballet, deutlich von der übermächtigen Konkurrenz in Covent Garden, unterscheiden. (Aus kontinentaleuropäischer Sicht verständlich aber auch eine Luxus-Frage: Da Khan, der dem ENB inzwischen auch „Creature“ beigesteuert hat. Dort Wayne McGregor und Christopher Wheeldon, Crystal Pite, die allerdings mit neoklassischem Material arbeiten können, beide Ensembles außerdem sinnvoll traditionsbewusst…)

Für Khan spricht, dass er der Story inhaltlich, wenn auch großformatig, treu bleibt: damals Adel/heute Fabriksbesitzer gegen bäuerliche Gesellschaft reinen Herzens/hier ausgebeutete Wanderarbeiterinnen/Gebückte. Eingebettet eine nicht standesgemäße Liebe mit letalem Ende.

Während der Konzeption 2015 soll Khan in Gedanken auch bei der aufflammenden Flüchtlingskrise gewesen sein. Entschlossen hat sich das Team mit Dramaturgin Ruth Little ihre „Giselle“ mit dem Thema der Ausbeutung von Wanderarbeiterinnen und Orten durch die kapitalisierte Textilindustrie zu unterfüttern. Konkret werden Manchester und die Stadt Dhaka in Bangladesh, der Heimat von Khans Eltern, angeführt, die über Generationen Reichtum abwechselnd mit Armut verzeichneten. Am Bühnengeschehen erkennt man wohl Gebückte und eine aufrechte stolze Kaste, den globalisierten Textilmarkt aber muss man sich im Programmheft erlesen, auch wenn die Ableitung aus der tradierten Fassung, in der Giselles Interesse an Handwerklichem und Textilem beim Aufeinandertreffen mit der adeligen Bathilde aufscheint, vermutlich den Ansatz geliefert hat. Man hat also wohl genau hingeschaut.

Gestalterisch überträgt Khan dem Ensemble seine eigenpersönliche rasante Könnerschaft samt adaptierter kronen-ähnlicher Arm- und Handgesten. Dessen klassische Schulung wird nicht verleugnet, spielt aber eine nachgeordnete Rolle. Die Dramatik des Geschehens liegt in der Lautstärke und in temporeichen, auch akrobatischen Auftritten, etwa Hilarion (Ken Saruhashi) aber nicht in der wenig detailfreudigen Erzählung. Selbst in den Duo-Momenten von Giselle (Erina Takahashi) und Albrecht (James Streeter) weht Kühle von der Bühne. Wie perfektioniertes Showbiz.

Hielt sich Mats Ek noch an die überlieferte Musikvorlage von Adolphe Adam, nutzt Khan ein synthetisches Gewebe von Vincenzo Lamagna, das vom Dirigenten Gavin Sutherland bearbeitet wurde und wie aus weiter Entfernung wenige Male Adam auftauchen lässt. Es deutet auf eine Art von Erinnerungsarbeit des Leitungsteams hin. Trotzdem fällt die omnipräsente Rolle der mächtigen, beweglichen Mauer zu, der einzigen Dekoration des Abends. Sie trennt Reich von Arm und letztlich auch Albrecht von Giselle.

Im Festspielhaus St. Pölten gab es intensiven Applaus für das vielgestaltige Ensemble des English National Ballet, das aus Wiener Sicht auch „Wiener“ Tänzer*innen unter sich hat. Die Solist*innen Fabian Reimair (Bathildes Vater) und Erik Woolhouse (Hilarion am zweiten Abend) sowie Natascha Mair (nicht mitgewesen).
 

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