„Giselle“ von Elena Tschernischova mit dem Wiener Staatsballett

Der Stein des Sisyphus

Zur Wiederaufführung der traditionellen „Giselle“ von Elena Tschernischova mit dem Wiener Staatsballett

Angesichts der aktuell laufenden Suche nach einer neuen Ballettdirektion für das Wiener Staatsballett ab der Spielzeit 2025/26 keimt die Hoffnung auf, dass der gewichtige Klassiker-Anteil des Repertoires eine entsprechende Wertschätzung erfährt.

Wien, 04/10/2023

Eigentlich sollte die Klassikerpflege ein selbstverständlicher Ausweis eines so traditionsreichen und großen Balletts wie jenem der Wiener Staatsoper sein. Sie ist Basis und Prüfstein eines klassisch ausgerichteten Ensembles, des ersten Ensembles des Landes. Denn genau jene Fähigkeit und auch jenes Verständnis befähigt einen ständig sich in Transformation befindlichen Gesamtkörper von über hundert Tänzerinnen und Tänzern ein kanonträchtiges Tanzerbe in eine Zukunft zu tragen. Nicht starr, sondern lebendig und biegsam. Daraus lässt sich auch die notwendige Versatilität für eine Moderne ableiten.

Und: keine Neuigkeit. Die Klassikerpflege ist schwer. Sie verlangt nach einer differenziert ausgebildeten Körperlichkeit und einem Wissen nach dem Facettenreichtum der danse d’ecole, sie erlaubt kein Schummeln. Wien verfügt auf Grund kulturpolitischer Entscheidungen über unterschiedliche Erblinien, eine davon geht auf Rudolf Nurejews Einstudierungen von Schwanensee, Don Quixote, Dornröschen und Raymonda zurück. Zuletzt hinterließ diesbezüglich vor allem Manuel Legris als Ballettdirektor und ehemaliger Nurejew-Schüler sichtbare Spuren. Wenn kürzlich Nurejews Don Quixote, und zwar seine Pariser Fassung, wieder aufgenommen wurde, begegnete man einer aus den Fugen geratenen, platt gedrückten Blödelei, die mit stupender Komödiantik nicht mehr viel gemein hatte. Dazu fehlen in Wien mittlerweile jene Attribute, die auch zum Ausweis eines klassischen Ensembles gehören: nämlich Beine, Oberkörper und Epaulement. Vermutlich gibt es viele Gründe für solch eine Situation, auch dispositioneller Art. Von außen betrachtet, rätselt man, warum Don Quixote, Giselle und Coppélia (Fassung von Pierre Lacotte, ab 7. Oktober) in einem sehr schmalen Zeitraum aufgeführt werden und die nächste mehrteilige Premiere bereits ins Haus steht.

Wie der Stein des Sisyphus mutet daher auch die Wiederaufführung der traditionellen Giselle-Version von Elena Tschernischova an, die seit vielen Jahrzehnten im Repertoire ist. tanznetz berichtete. Zuletzt urgierte man in Wien auch das Fehlen eines danseur noble, den Direktor Martin Schläpfer mit dem Engagement des kanadischen Tänzers Brendan Saye gefunden haben wollte. Gemeinsam mit der erfahrenen, um fließende Lyrik bemühten Hyo-Jung Kang, vormals Stuttgart, tanzte der hochgewachsene wenig elastische und sich mit der anspruchsvollen Technik aber auch mit dem Spielverständnis schwertuende Tänzer den Albrecht in der neuen Giselle-Serie. Ausgehend vom disparaten Gesamteindruck des Abends, der auf zu wenig Probenzeit (Dirigat aber auch Lichttchnik) und offenbar unterschiedliche Anschauungen von Rolleninterpretation schließen lässt, kann man - höflich - von einer durchschnittlichen Aufführungsqualität sprechen. Poesie kam da keine auf.

Angesichts der aktuell laufenden Suche nach einer neuen Ballettdirektion ab der Spielzeit 2025/26 keimt die Hoffnung auf, dass der gewichtige Klassiker-Anteil des Repertoires eine  entsprechende Wertschätzung erfährt.

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