Klamauk und künstlerisches Können
Das Bühnenprogramm des diesjährigen Zürcher Theaterspektakel setzt Vorzeichen auf Vielseitigkeit
Eko Supriyanto mit „Cry Jailolo“ und Alice Ripoll mit „Suave“ beim Sommerfestival auf Kampnagel
Es war ein Abend der Gegensätze, wie er gegensätzlicher nicht hätte sein können: Hier sieben schmächtige junge Männer aus Indonesien, dort kraftstrotzende Jugendliche aus Rio de Janeiro. Hier die eher stille und doch gewaltige Anklage der Zerstörung der Umwelt und der klare Wille, sich dagegen zu stellen. Dort die überbordende Lebenslust und Zärtlichkeit für das Leben in jeder Schattierung. Zwei Stücke, die sich auf wundersame Weise ergänzen.
„Cry Jailolo“ entstand für die Stadt Jailolo auf den Nordmolukken, ein Eldorado für Taucher mit Korallenriffen von atemberaubender Schönheit und einem beispiellosen Fischreichtum. Aber das Paradies ist bedroht. Nicht nur von der Umweltverschmutzung, sondern auch von religiösen und sozialen Konflikten. Der aus Indonesien stammende Tänzer und Choreograf Eko Supriyanto, der in vielen großen internationalen Produktionen mitwirkte (u.a. bei „König der Löwen“ und bei Madonna), erarbeitete mit jungen Fischern aus der Region von Jailolo ein Tanzstück von großer Intensität. Es lebt von der Schlichtheit seiner Protagonisten, die gerade deshalb umso authentischer erscheint. Und es lebt von der inneren Stärke, die diesen sieben Indonesiern aus allen Poren quillt.
Schon der Beginn ist ebenso leise wie bewegend: aus dem Dunkel heraus wird ein rhythmisches, schnelles Tapsen vernehmlich. Nur sehr verhalten richtet sich ein extrem langsam aufblendender Spot auf zwei Füße, die im raschen Wechsel nebeneinander den Boden berühren: rechts der ganze Fuß, links nur die Ferse. Dieses schnelle Hin und Her behält der junge Mann über 10 Minuten bei. Ohne mit dem Körper irgendeine andere Regung zu vollführen. Er bewegt nur die Füße, immer am selben Punkt, immer im selben Rhythmus.
Langsam schälen sich aus dem dunklen Hintergrund zwei Gestalten heraus, sie sind wie der erste in rote traditionelle, knielange Hosen gekleidet, der Oberkörper ist frei, Wade und Schienbein sind mit einem silbernen Strich bis zur Fußspitze bemalt. Nach und nach kommen vier weitere Männer auf die Bühne, fügen sich zu ornamentalen Ensembles, lösen sich wieder auf, um sich aufs Neue zu finden. Immer in diesem schnellen Zweier-Rhythmus der Füße. Raumgreifende Armbewegungen kommen hinzu, die schmalen Hände, die Flächen mit weißer Farbe bemalt, im Stil der Tempeltänzerinnen bewegend oder zur halben Faust geschlossen.
Über 40 Minuten lang lässt Supriyanto immer wieder neue Formationen entstehen, von wellenartig einsaugender und auswerfender Dynamik. So entsteht zwischen Bühne und Publikum ein magischer Sog zu elektronischer Musik. Ein Störgeräusch markiert die Breaks, wenn sich einzelne oder auch kleine Gruppen aus der Gemeinsamkeit lösen und eigene Wege gehen. Aber immer finden schließlich alle zur Synchronität zurück.
Einer der stärksten Momente kommt, als die Musik schlagartig abbricht und alle sieben ruckartig stehenbleiben, die Gesichter dem Publikum zugewandt. Schweigend verharren sie geschlagene fünf Minuten – eine lange Zeit, die beim Publikum zu spürbarer Verunsicherung führt. Und doch ist klar: Fertig sind die sieben Männer auf der Bühne noch nicht. Es ist eine Konfrontation mit der Ohnmacht, mit dem Zorn, aber auch mit der Entschlossenheit eines ganzen Volkes. Bis sich dann doch einer der Sieben aus der Erstarrung löst und sich schließlich alles wieder auflöst in das Dunkel hinein.
Und dann der fliegende Wechsel in die Hitze Südamerikas, nach Rio de Janeiro und seine freie Tanzszene. Zehn Jungen und Mädchen sitzen auf Kissen am Boden, mit dem Rücken zum Publikum. Irgendwann steht einer auf und beginnt zu improvisieren. Ein anderer folgt, sie umgarnen sich, sie flirten miteinander, sie kommunizieren mit allen Gliedmaßen. Unter der „musikalisch-funkigen“ (Programmzettel) Leitung von DJ Vinimax entsteht ein ebenso sehnsuchtsvolles wie zärtliches, erotisches, poetisches Streetdance-Potpourri. Da verschmelzen Breakdance und Samba und diverses andere zu „Passinho“, einer neuen, wilden Stilmischung, in der alles erlaubt ist, was gerade einfällt und gefällt. Und was dazu angetan ist, irgendwie miteinander in Kontakt zu kommen, um sich dann ebenso spontan wieder zu verlassen und anderem zuzuwenden.
Die zehn jungen Tänzer und Tänzerinnen, die Alice Ripoll buchstäblich von der Straße weg engagiert hat, haben sichtlich Spaß, jeder und jede auf seine/ihre Art und Weise. Nach einer knappen Stunde passiert, was in Rio schon nach wenigen Minuten geschehen wäre: Die Tänzer fordern das Publikum auf, mitzumachen. Was halt einfach ein bisschen komisch aussieht, wenn steife Deutsche mit diesen obergelenkigen Youngsters herumhopsen. Aber das macht dann auch nichts mehr, weil es einfach nur ein Riesenspaß ist. Wie man sich „Suave“ eigentlich nicht auf einer Bühne wünscht, sondern draußen, auf dem freien Gelände von Kampnagel und auf den Straßen Hamburgs.
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