„7 Pleasures“ von Mette Ingvartsen
„7 Pleasures“ von Mette Ingvartsen

Demokratische Sinnlichkeit

„7 Pleasures“ von Mette Ingvartsen beim Steirischen Herbst in Graz

Mette Ingvartsen, seit ihrer Aufnahme ins künstlerische Team des designierten Intendanten der Berliner Volksbühne Chris Dercon verstärkt im internationalen Fokus, ist bekannt für komplexe Tanzreflexionen über Körper(politik) und Ökologie

Graz, 28/09/2015

Angesichts der warmen Raumtemperatur verwundert es nicht, dass ein Besucher im Publikum seinen Pullover auszieht. Sobald er sich jedoch auch des Unterhemds entledigt und mit nacktem Oberkörper in die Runde blickt, ist klar, „7 Pleasures“ von Mette Ingvartsen beim Steirischen Herbst in Graz hat bereits begonnen.

In konzentrierter Ruhe, begleitet von dröhnend-rhythmischen Beateinspielungen, entkleiden sich nun alle zwölf Performerinnen und Performer, bevor sie nackt zur Bühne gehen und ihre durch Schuhwerk und Kleidung als ehemals „bewohnt“ markierten Sitzplätze zurücklassen. Angenehme Lücken entstehen, die den Zwang nach maximaler Auslastung von Kulturveranstaltungen wohltuend unterlaufen und „7 Pleasures“ als unmittelbar mit dem Publikum verknüpft markiert. Eine Performerin setzt sich rücklinks auf einen Fauteuil und wartet regungslos. Die anderen Elf formieren eine Körperskulptur, die in sich verschlungen als zärtlich-zähe Masse diagonal über die Bühne rollt, robbt oder kriecht.

Mette Ingvartsen, seit ihrer Aufnahme ins künstlerische Team des designierten Intendanten der Berliner Volksbühne Chris Dercon verstärkt im internationalen Fokus, ist bekannt für komplexe Tanzreflexionen über Körper(politik) und Ökologie. In ihren „Extended Choreographies“ experimentiert die 35-jährige in Amsterdam, Brüssel (P.A.R.T.S.) und Stockholm ausgebildete Dänin mit einer gleichwertigen Organisation von Mensch, Objekt, Licht, Sound und Publikum. Ein Inszenierungsverfahren, welches sie in „7 Pleasures“ vielschichtig anwendet, um dem Stück über Hedonismus und Sinneslust hinaus zusätzliche Deutungsräume zu erschließen.

Die schwarze Bühne mit Sofa, Fauteuil, Tisch, Teppich, einigen Stühlen, Yucca-Palme, Fransenvorhang und zwei orangen Hängelampen verströmt eine Mischung aus schmierigem Office und dezentem Swingerclub. Je mehr sich das Ensemble von der eingangs beschriebenen, rollenden Masse zu individuellen Einzelpersonen wandelt, desto intensiver beginnen diese untereinander und mit den Objekten zu interagieren. Begleitet von einem leisen Dauerrauschen reibt man sich an Pölstern, lutscht die Blätter der Yucca, kuschelt mit dem Teppich oder bestrahlt sich den Brustkorb.

Mit wie wenigen Mitteln es Ingvartsen schafft, aus diesem trägen Sein einen Höhepunkt zu kreieren, ist beeindruckend. Sachte erhöht sie Dynamik und Tempo, lässt die Performerinnen und Performer laufen, konvulsivische Bewegungen vollführen, maximiert die Lautstärke der Geräuscheinspielung und dimmt das Licht. Sobald einzelne beginnen, Seile und Schläuche wie Lassos durch die Luft bewegen, scheint sich das Geschehen lustvoll-anarchisch zu verselbständigen. Unmerklich schiebt das Ensemble dabei die Einrichtung in Richtung Bühnenrand, so dass, wenn nach dem ekstatischen Ausbruch alle erschöpft herumhängen, sich die erworbene Intimität auch räumlich widerspiegelt.

Während es den Reformtänzerinnen Ende des 19. Jahrhunderts um eine Wiederaneignung des natürlichen, nackten Körpers ging, man in den 1960er Jahren mit Nacktheit für eine Liberalisierung der Sexualität kämpfte und Kunstschaffende im beginnenden 21. Jahrhundert die Norm des makellosen Körpers kritisieren, eröffnet Ingvartsen einen utopischen Körperdiskurs. In „7 Pleasures“ erweitert sie Sinnlichkeit und Sexualität auf a-menschliche Materie und pendelt dabei auf allen semantischen Ebenen zwischen hierarchischen und gleichberechtigten Momenten. Beispielsweise scheint eine durchsichtige Folie Eigenleben zu entwickeln, wenn ihr Knistern bei menschlicher Berührung elektronisch verstärkt wird. Ohne akustische Unterstützung bleibe sie dem dekorativen Aspekt verhaftet. Im Akzeptieren der Unabgeschlossenheit solcher Prozesse liegt Ingvartsens progressives Potential.

Wie repressiv sich im Gegensatz dazu eindeutige Zuweisungen auswirken, artikuliert sie im Schlussteil der Performance, als ein Teil des Ensembles unvermittelt in schwarzer Kleidung auftritt. Mit einem Schlag hängt über der Szenerie eine düstere Bedrohung. Unsicherheiten, inwieweit die körperlichen Handlungen im gegenseitigen Einverständnis oder unter Zwang passieren, liegen in der Luft. Sobald sich der Kontrast aufweicht, weil sich fast alle wieder teilweise be- bzw. entkleiden, entspannt sich die Situation. Zurück bleibt die dringliche Vermutung, dass sich demokratische Sinnlichkeit am ehesten innerhalb eines komplexen Diskursgewebes verwirklichen lässt.

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