„Vortex Temporum“ von Anne Teresa de Keersmaeker

„Vortex Temporum“ von Anne Teresa de Keersmaeker

Im Gedankenstrudel

De Keersmaeker und Eisa Jocson bei „Theater der Welt“

Die niederländische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker macht niemals halbe Sachen. Und wenn sie sich mit zeitgenössischer Musik beschäftigt, dann darf man sicher sein, dass sie einmal mehr die Wurzeln von Klang und Bewegung in Raum und Zeit von Grund auf reflektiert.

Mannheim, 09/06/2014

Die belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker macht niemals halbe Sachen. Und wenn sie sich mit zeitgenössischer Musik beschäftigt, dann darf man sicher sein, dass sie einmal mehr die Wurzeln von Klang und Bewegung in Raum und Zeit von Grund auf reflektiert. Mit diesem Anspruch verwandelte sie das Spätwerk des 1998 verstorbenen französischen Komponisten Gérard Grisey „Vortex Temporum“ (1996) in einen außergewöhnlichen einstündigen Tanzabend. Denn nicht alle Tage treffen zwei belgische Ausnahmeensembles aufeinander – Keersmaekers berühmte Company Rosas und das auf Neue Musik spezialisierte Ictus Ensemble.

So viel Respekt hat die Choreografin vor dem nur 35 Minuten langen, freilich aufs höchste verdichteten Musikstück (für Klavier und fünf Instrumente), dass die ersten zehn Minuten den Musikern allein gehören. Sie sitzen vorne auf der leeren Bühne, auf der nur sich überschneidende Kreidekreise an den Titel (wörtlich übersetzt: „Zeitwirbel“) erinnern. Kreis- und spiralförmige Bewegungsmuster sind Grundlagen der Komposition wie auch der Choreografie. Grisey war als Komponist an der physikalischen Qualität der Töne und Obertöne interessiert und mixte sie zu farbigen, geradezu bewegten Klängen. Die Instrumente stimmen einen extravaganten Dialog an, bei dem immer Zeit zum Nachhören des Klangs bleibt; es ist ein Stück mit vielen kleinen Pausen. Wenn die „Rosas“ dazukommen, treten die Musiker erst einmal ab – nur der Spieler am Flügel bleibt und fordert sein tänzerisches Gegenüber zu immer schnelleren strudelartigen Bewegungen heraus.

Mit dem grundsätzlichen Bewegungsvokabular für dieses Stück hat sich De Keersmaeker streng an die Bewegungsrichtungen der Komposition gehalten – eine Art Aufrichtung aus der Horizontalen in die Vertikale ist das eine Element, die Variation spiralförmiger Drehungen das andere. Am Ende des Duos zwischen Klavier und Tanz gibt der Tänzer frustriert auf und haut seinerseits unkontrolliert in die Tasten. Nein, eine direkte Entsprechung zwischen der Musik und dem Tanz funktioniert nicht; andere choreografische Qualitäten müssen her. So dürfen die „Rosas“ erst einmal allein die Bühne erobern; wenn die Musiker zurückkommen, bleiben sie im Hintergrund der Bühne stehen und mischen sich sacht zwischen die Tänzer. Die stecken ihre Kreise und Spiralen ab – oft aus dem so typischen Rennen heraus – nicht nur vorwärts, sondern auch rückwärts. Die Komposition geht ebenfalls einen unorthodoxen Weg: von lauten, effektvollen Klangwirbeln zu immer kleineren, feineren Klangeinheiten, die mit dem Streichen des Bogens auf dem Holz des Instrumentenkörpers enden. Man kann der Zeit beim Verrinnen förmlich Zuhören und der Bewegung beim Verrieseln zuschauen.

Es ist ein sehr anspruchsvolles, intellektuelles, kühles Konzept von Tanz, mit dem sich De Keersmaeker dem Anspruch der Zeitgenossenschaft stellt – die Reaktion der Mannheimer Zeitgenossen im Schauspielhaus war äußerst respektvoll – und ebenfalls kühl.

Die sinnliche Variante von Tanz gab es dann zu später Stunde im Werkhaus Studio: Die Choreografin und Tänzerin Eisa Jocson (Manila) schlüpfte für 50 Minuten von „Macho Dancer“ in die Rolle eines Table Dancers – eines männlichen, wohlgemerkt. Ausgestattet mit Cowboystiefeln und demonstrativen Attributen der Männlichkeit im engen Lederslip, führte sie gleich eine Menge Gender-Klischees ad absurdum – sei es die passende Musikwahl (Hardrock oder Softsong) oder ein typisch männliches Bewegungsvokabular. Das Publikum reagierte entsprechend hin- und hergerissen.
 

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