„Mystery Sonatas / For Rosa“ von Anna Teresa De Keersmaeker / Amandine Beyer / Rosas / Gli Incogniti

Vertrautes, das ungewohnt wirkt

„Mystery Sonatas / For Rosa“ von Anne Teresa De Keersmaeker bei Impulstanz

Das neueste Gruppenstück der belgischen Choreografin vereint alles, was man von ihr seit vielen Jahren gewohnt ist und doch wirkt es anders, frischer. Das liegt vielleicht auch an der verwendeten Musik, den „Mysterien-Sonaten“.

Wien, 14/07/2022

Dichter Theaternebel wabert von der Bühne durch den Zuschauerraum des Wiener Volkstheaters vor Beginn der Österreichischen Erstaufführung von Anne Teresa De Keersmaekers „Mystery Sonatas / For Rosa“. Doch leider, der Nebel ist zu dicht – eine Nebelmaschine ist „durchgegangen“ –, das Publikum muss fast vierzig Minuten warten, bis sich der Nebel zum Großteil verzogen hat und das Stück beginnen kann. Durch diese Verzögerung hat man den ganzen Abend das Gefühl, dass sowohl die Energie im Publikum als auch auf der Bühne nicht ganz stimmig ist. Das ist sehr schade, denn Keersmaeker hat wieder einmal ein großartiges Stück geschaffen.

Auf der leeren Bühne ist links hinten das Ensemble Gli Incogniti, das auf alte Musik spezialisiert ist, platziert. Unter der Leitung der Violonistin Amandine Beyer interpretiert es hervorragend die 16 „Mysterien-Sonaten“ von Heinrich Ignaz Franz Biber. Der berühmte Komponist und Geiger der Barockzeit komponierte diese zwischen 1678 und 1687. Aufgeteilt werden die Sonaten in drei Fünfergruppen, nämlich in den freudenreichen, den schmerzhaften und den glorreichen Rosenkranz, weshalb sie auch „Rosenkranzsonaten“ genannt werden. Zum Abschluss folgt die Passagalia „Der Schutzengel“ für Violine, Solo. Es ist also Musik, die nicht für den Tanz komponiert ist sondern ganz im Gegenteil eine Unterstützung für das Beten des Rosenkranzes sein soll. Doch wer sich mit der Komposition genauer beschäftigt entdeckt – wie eben auch Anne Teresa De Keersmaeker – dass die Musik sehr tänzerisch wirkt; auch, weil sie Tanzformen wie Gigues, Allemandes und Courantes enthält.

Im rechten Bühnenteil schwebt ein breites, u-förmig gebogenes Metallband, das je nach Beleuchtung Schatten wirft oder das Licht reflektiert und somit für eine ganz besondere Lichtstimmung sorgt. Das Set- und Lichtdesign von Minna Tiikkainen nimmt einen wichtigen Stellenwert in der Produktion ein. Mal sind die Tänzer*innen im Halbdunkel nur schemenhaft zu erkennen, dann werden sowohl Bühne als auch Teile des Zuschauerraums in gleißend helles Licht getaucht. All das geschieht in bewundernswerter Harmonie mit der Musik und dem Tanz. Das Licht wird auch zur Trennung der einzelnen Sätze und Teile verwendet: teilweise durch Stroboskopeffekte oder durch Farben. Auf dem Boden kann man, je nach Lichtstimmung, unterschiedliche aufgeklebte geometrische Formen erkennen.

Die schlichten, fließenden Kostüme von Fauce Ryckebusch fügen sich gut in das Konzept von Musik und Tanz ein. Im ersten Teil sind diese schwarz, teilweise aus durchsichtigem Stoff, der dennoch verhüllt. Auch der Diversität wird Rechnung getragen, indem ein Tänzer ein Kleid trägt. Bei den Soli im zweiten Teil kommt mit dem roten Oberteil einer Tänzerin Farbe ins Spiel. Erst im dritten Teil werden die Kostüme etwas bunter.

Der Tanz steht natürlich im Vordergrund dieses Abends. Anne Teresa De Keersmaeker versucht nicht, eine Geschichte zu erzählen, sondern lässt sich von der Musik inspirieren. Oftmals wirken die Tänzer*innen als ob ihnen die Musik Flügel verleiht oder sie liegen einfach „nur“ auf der Bühne und lauschen den ausgezeichneten Musiker*innen. In ihrer Choreografie arbeitet Keersmaeker – wie gewohnt – streng mathematisch und auch nach musikalischen Formen. Da pflanzen sich Bewegungsmotive unter den Tänzer*innen fort, werden im Kanon getanzt oder wiederholen sich in unterschiedlichen Tempi.

Das Bewegungsmaterial wirkt vertraut und doch neu: es gibt viele kleine Hüpfer, Drehungen, die Arme haben eine wichtige Bedeutung, manchmal wird auf der Bühne einfach nur gegangen oder gelaufen. Die ausgezeichneten Tänzer*innen kommen immer wieder in anderen Konstellationen zusammen: Der erste und dritte Teil sind von Gruppenchoreografien geprägt, während im zweiten Teil jeder Satz als Solo konzipiert ist. Alles fließt an diesem Abend sanft dahin, lullt ein bisschen ein und zieht dadurch aber immer mehr in das Stück hinein. Selbst die Stimmpausen zwischen den einzelnen Sätzen – jeder Satz wird von der Violine in einer anderen Stimmung gespielt – werden choreografisch gestaltet.

Harte Brüche gibt es zwischen den jeweiligen Teilen. So kommt nach dem ersten Teil etwas Discofeeling auf, wenn plötzlich Lynn Andersons „(I Never Promised You A) Rose Garden“ durch den Zuschauerraum dröhnt. Ein Theatergewitter unterbricht vor dem dritten Teil, musikalisch noch einmal umrahmt von Lynn Anderson sowie von Madonnas „Ray of Light“. Der Hintergrund für diese Brüche ist allerdings nicht wirklich erkennbar.

Die hervorragenden Tänzer*innen von Keersmaeker Ensemble Rosas tragen viel zum Gelingen des Stücks bei. Mit ihrer starken Bühnenpräsenz wirkt die große Bühne auch bei den Soli nicht leer. Laut Programmheft sind es neun, die im Wechsel tanzen, bei dieser Vorstellung standen sieben auf der Bühne. Nach 135 Minuten wirken nicht nur die Tänzer*innen und Musiker*innen sondern auch das Publikum erschöpft. Dennoch gab es viel Applaus für diesen mystischen Abend.
 

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