Die Störrische

Die belgische Star-Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker variiert in Wien eine alte Arbeit neu, in Graz wird ihre nächste Uraufführung zu sehen sein

Wien, 19/07/2011

Anne Teresa De Keersmaeker schenkt sich nichts. Dabei könnte sich die belgische Choreografin, die immerhin Weltgeltung genießt, auf ihren künstlerischen Errungenschaften längst ausruhen. Kürzlich wurde sie mit ihrem Stück „Rain“ sogar in den Olymp der klassischen Tanzkunst geladen – in das Ballett der Pariser Oper. De Keersmaeker hat, nach strenger Prüfung der Fähigkeiten des Ensembles, erstmals ein großes Stück außer Haus an ein klassisches Ensemble abgegeben. Seit bald drei Jahrzehnten lotet die von der flämischen Gemeinde unterstützte Künstlerin den Zusammenhang von Tanz und Musik mit ihrem Ensemble Rosas immer neu aus: dramaturgisch, ästhetisch, inhaltlich. Sie arbeitet mit Kompositionen von Bach, Mozart, Debussy, Strawinsky, Bartók, Schönberg, aber auch mit der Musik von Miles Davis, Steve Reich, Thierry de Mey. De Keersmaeker etablierte ein neues feminines Körperbild auf der Bühne, das unmittelbare Gegenwart mit scheinbarer Leichtigkeit spiegelt und auf einem elementaren Verständnis von virtuos geschulter Beweglichkeit aufbaut. Der eigenwillige, starke Ausdruck ihrer Tänzerinnen manifestiert die weibliche Selbstbehauptung durchaus kämpferisch: Am Anfang war das Mädchen mit kinnlangem glattem Haar, in hoch schwingenden Röcken, die Füße in Socken und dicken Schuhen, die mit kraftvoll schlagenden Bewegungen auf die Musik reagierten. Später wurden ihre mittlerweile erwachsenen Damen widerspenstiger, zogen die Stöckelschuhe aus und rollten im feinen Kostüm auf dem Bühnenboden.

Dann kam der Modedesigner Dries Van Noten ins Spiel. Seine Entwürfe entsprechen dem Keersmaeker’schen Habitus perfekt: Sie unterstreichen mit größter Nonchalance die emanzipierte Haltung des Rosas-Teams ohne Kitsch und Pathos. Ganz spezielle Erfahrungen mit Frau Keersmaeker macht man als Fragestellerin. Sie ist wunderbar störrisch, ringt stets um das beste Wort, antwortet karg, beschönigt nichts. Das gilt auch für ihre Bühnenauftritte. Gern riskiert die Tänzerin Programme in kleiner Besetzung. 2010 erzürnte De Keersmaeker Besucher im Theater an der Wien, als sie sich erdreistete, Gustav Mahler selbst zu singen: In „3Abschied“ geht es um das Motiv des Todes aus dem „Lied von der Erde“, das sie flehentlich, andächtig von sich gab, freilich als Amateurin. Trotzdem scheint ihr da Ähnliches gelungen zu sein wie einst Isadora Duncan, die Musik aus ihrem persönlichen Gefühl heraus interpretierte: kein akademischer Schöntanz nach dem damaligen Verständnis, keine Show. Kein Schöngesang bei Keersmaeker, die den Schmerz und Abschied fast flüsterte.

Und sie experimentiert weiter mit der Stimme, die sie die intimste Bewegung des Menschen nennt. Das Atmen und die Stimme sind Ausgangspunkte ihres jüngsten Programms, das dieser Tage beim Theaterfestival in Avignon herauskommen wird: „Cesena“. Tänzer werden singen, und Sänger werden tanzen in Zusammenarbeit mit Björn Schmelzer und dem Antwerpener Ensemble Graindelavoix für Alte Musik, das seinen Namen auf einen Roland-Barthes-Text über die menschliche Stimme bezieht und sich auf den ungewohnten, physisch-direkten Ausdruck einlässt. Noch ehe „Cesena“ als Co-Produktion mit dem Steirischen Herbst Ende September auch in Österreich zu sehen sein wird, gastiert De Keersmaeker bei ihrem Wiener Stammfestival ImPulsTanz.

Nach der Neueinstudierung ihrer frühen „Klassiker“ wie des Mädchen-Quartetts „Rosas danst Rosas“ hat sich De Keersmaeker nun ein weiteres Mal der eigenen Geschichte gestellt. Die Arbeit „Elena’s Aria“ (1984) hatte sie ein Vierteljahrhundert lang nicht angerührt. Von diesem Abend mit fünf Frauen gab es nur noch die Videoaufzeichnung einer New Yorker Aufführung. Erstmals versuchte die damals 23-Jährige, mit gesprochenem Wort und Videotechnologie zu arbeiten. Die Wiederbelebung leistete nun vor allem die herausragende Rosas-Tänzerin Fumiyo Ikeda. Die Neufassung von „Elena’s Aria“ ist die bereits 25. Rosas-Produktion, die ImPulsTanz zeigt. Dessen Gründer und Intendant, Karl Regensburger, hat sich die Belgierin auf die Fahnen geschrieben – so ausdauernd und überzeugend, dass nach vielen internationalen Ehrungen für De Keersmaeker auch eine österreichische bevorstehen könnte.

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